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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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wird dir helfen, alles Nötige einzuleiten. Ich fahre heute Abend nach Philadelphia, um Rearden zu treffen. Er und ich haben viel zu tun.“ Dann setzte sie hinzu: „So einfach ist das, Jim.“
    Sie hatte sich bereits umgedreht, als er sie noch einmal ansprach und ohne erkennbaren Zusammenhang sagte: „Für dich mag das in Ordnung sein, weil du Glück hast. Andere können das nicht.“
    „Was können andere nicht?“
    „Andere Menschen haben ein Herz. Sie sind mitfühlend. Sie können nicht ihr ganzes Leben in den Dienst von Metallen und Lokomotiven stellen. Du hast Glück – Gefühle sind dir fremd. Du hast noch nie das Geringste empfunden.“
    Sie schaute ihn an. Die anfängliche Verwunderung in ihren dunkelgrauen Augen wich allmählich einer Stille und schließlich einem eigentümlichen, beinahe matten Ausdruck, der allerdings nicht nur dem gegenwärtigen Augenblick geschuldet war.
    „Nein, Jim“, sagte sie leise. „Ich glaube, ich habe noch nie das Geringste empfunden.“
    Eddie Willers folgte ihr in ihr Büro. Wenn sie zurückkam, schien es ihm immer, als würde die Welt klar und unkompliziert und als könnte man problemlos mit ihr zurechtkommen, und die Augenblicke scheinbar grundloser Beklemmung waren vergessen. Er war der Einzige, dem es ganz selbstverständlich erschien, dass sie als Frau die Betriebsleitende Vizepräsidentin einer großen Eisenbahngesellschaft war. Schon im Alter von zehn Jahren hatte sie ihm gesagt, dass sie eines Tages die Bahn leiten würde. Es überraschte ihn heute ebenso wenig, wie es ihn damals auf jener Waldlichtung überrascht hatte.
    Als sie in ihr Büro traten, als er sah, wie sie am Schreibtisch Platz nahm, um die Notizen durchzuschauen, die er für sie bereitgelegt hatte, empfand er dasselbe wie in seinem Automobil, wenn er den Motor anließ und das Fahrzeug sich in Gang setzte.
    Er war eben im Begriff, ihr Büro zu verlassen, als ihm noch etwas einfiel, das er ihr noch nicht berichtet hatte: „Owen Kellogg vom hiesigen Terminal hat mich um einen Termin mit dir gebeten“, sagte er.
    Sie blickte erstaunt auf. „Das ist ja eigenartig. Ich wollte ihn selbst schon herbitten. Er soll hochkommen. Ich möchte ihn sprechen. … Ach, und Eddie“, fügte sie plötzlich hinzu, „verbinde mich bitte vorher noch mit Mr. Ayers von der Ayers Music Publishing Company.“
    „Du meinst den Musikverleger?“, fragte er ungläubig.
    „Ja. Ich möchte ihn etwas fragen.“
    Nachdem Mr. Ayers sich höflich und beflissen erkundigt hatte, womit er dienen könne, fragte sie: „Können Sie mir sagen, ob Richard Halley ein neues Klavierkonzert komponiert hat, ein fünftes?“
    „Ein fünftes Konzert, Miss Taggart? Aber nein, natürlich nicht.“
    „Sind Sie sicher?“
    „Gewiss, Miss Taggart. Er hat seit acht Jahren nichts mehr komponiert.“
    „Lebt er denn noch?“
    „Aber ja – das heißt, ich bin mir nicht ganz sicher. Er hat sich gänzlich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, aber ich bin sicher, wir hätten es erfahren, wenn er gestorben wäre.“
    „Und wenn er etwas Neues komponiert hätte, wüssten Sie davon?“
    „Unbedingt. Wir würden es als Erste erfahren. Wir haben bisher alle seine Werke veröffentlicht. Aber er hat aufgehört zu komponieren.“
    „Ich verstehe. Vielen Dank!“
    Als Owen Kellogg in ihr Büro trat, schaute sie ihn mit Genugtuung an. Sie war froh zu sehen, dass ihr Gedächtnis sie nicht getäuscht hatte – sein Gesichtsausdruck ähnelte dem des jungen Bremsers im Zug. Es war das Gesicht eines Mannes, mit dem man vernünftig reden konnte.
    „Nehmen Sie Platz, Mr. Kellogg“, sagte sie, doch er blieb vor ihrem Schreibtisch stehen.
    „Sie haben mich einmal gebeten, Sie zu informieren, sollte ich mich je entschließen, mich beruflich zu verändern, Miss Taggart“, sagte er. „Deshalb bin ich gekommen, um Ihnen zu sagen, dass ich kündige.“
    Sie hatte alles erwartet, nur das nicht. Es dauerte einen Augenblick, bis sie sich gefasst hatte und ruhig fragte: „Aber weshalb?“
    „Aus einem persönlichen Grund.“
    „Waren Sie bei uns unzufrieden?“
    „Nein.“
    „Haben Sie ein besseres Angebot erhalten?“
    „Nein.“
    „Zu welcher Eisenbahngesellschaft gehen Sie?“
    „Ich gehe zu gar keiner Eisenbahngesellschaft, Miss Taggart.“
    „Wo werden Sie dann arbeiten?“
    „Das weiß ich noch nicht.“
    Sie musterte ihn leicht verunsichert. Er strahlte keine Feindseligkeit aus. Er schaute ihr direkt ins Gesicht, antwortete prompt, ohne

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