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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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Alter von zwanzig Jahren schon alt ausgesehen hatte, aber jetzt, mit fünfundvierzig, jung wirkte. So weit er zurückdenken konnte, hatte man ihm gesagt, sein Gesicht sei hässlich, weil es unnachgiebig und hart war, weil es ausdruckslos war. Auch jetzt, als er das Metall beobachtete, war es ausdruckslos. Der Mann war Hank Rearden.
    Das Metall füllte die Gießpfanne und lief in verschwenderischer Fülle über. Die gleißend weißen Rinnsale wurden leuchtend braun und verwandelten sich einen Augenblick später in schwarze Eiszapfen aus Metall, die nach und nach abbröckelten. Die Schlacke verkrustete zu einer dicken braunen Schicht, die aussah wie die Erdkruste. Sobald die Kruste eine gewisse Stärke erreicht hatte, brachen Krater auf, und die im Inneren noch brodelnde weiße Flüssigkeit quoll heraus.
    Ein Arbeiter schwebte im Führerhaus seines Krans durch die Luft. Mit einer leichten Handbewegung zog er einen Hebel. Stahlgreifer an einer Kette senkten sich, packten die Griffe der Gießpfanne, hoben sie mühelos an, als handelte es sich um einen Eimer Milch – und zweihundert Tonnen Metall schwebten durch den Raum zu einer Reihe von Gussformen, die darauf warteten, befüllt zu werden.
    Hank Rearden lehnte sich zurück und schloss die Augen. Er fühlte, wie der Pfeiler vom Rollen des Krans erbebte. Es ist geschafft, dachte er.
    Ein Arbeiter erblickte ihn und lächelte verstehend wie ein Mitverschwörer, der wusste, weshalb diese große, blonde Gestalt an diesem Abend hier anwesend sein musste. Rearden erwiderte das Lächeln; es war der einzige Gruß, der ihm zuteilgeworden war. Dann nahm sein Gesicht wieder seine gewohnte Ausdruckslosigkeit an, und er kehrte zurück in sein Büro.
    Es war schon spät, als Hank Rearden an diesem Abend sein Büro verließ, um zu Fuß vom Stahlwerk nach Hause zu gehen. Er hatte etliche Meilen durch eine unbewohnte Gegend zurückzulegen, aber er wollte die Strecke laufen, ohne zu wissen, warum.
    Während des Gehens behielt er eine Hand in der Manteltasche und umschloss mit den Fingern ein Armband. Es war aus Rearden-Metall und hatte die Form einer Kette. Er ließ es durch die Finger gleiten und betastete hin und wieder seine Struktur. Zehn Jahre hatte er gebraucht, um dieses Armband herzustellen. Zehn Jahre sind eine lange Zeit, dachte er.
    Die Straße war dunkel und von Bäumen gesäumt. Er blickte nach oben und sah vor dem Sternenhimmel einige Blätter; sie waren welk und trocken und würden bald herabfallen. In der Ferne sah er den Lichtschein vereinzelter Häuser, doch dadurch erschien die Straße noch einsamer.
    Er fühlte sich nie einsam, außer wenn er glücklich war. Dann und wann drehte er sich nach dem rot glühenden Himmel über dem Stahlwerk um.
    Er dachte nicht an jene zehn Jahre. An diesem Abend blieb von ihnen nur ein unbeschreibliches Gefühl von Ruhe und Erhabenheit. Dieses Gefühl war eine Summe, und es war nicht nötig, sich seine einzelnen Bestandteile ins Gedächtnis zu rufen. Sie waren ohnedies alle gegenwärtig und in diesem Gefühl enthalten. Es waren die Nächte, die er an den glühend heißen Öfen in den Forschungslabors des Stahlwerks verbracht hatte;
    – die Nächte zuhause in der Werkstatt, wo er Blätter mit Formeln füllte und verärgert wieder zerriss, wenn er zu keinem Ergebnis kam;
    – die Tage, an denen die wenigen jungen Wissenschaftler, die er als Assistenten angestellt hatte, auf Anweisungen warteten wie Soldaten vor einer aussichtslosen Schlacht. Sie waren mit ihrer Weisheit am Ende, aber warteten dennoch wortlos. Sie wagten nicht, jenen Satz auszusprechen, der gleichwohl in der Luft lag: „Mr. Rearden, es ist nicht machbar“;
    – die Mahlzeiten, die er unterbrochen und vergessen hatte, wenn es galt, einem plötzlichen Geistesblitz nachzugehen, einem Gedanken, den er dann prüfte, monatelang verfolgte und der sich doch wieder als Irrweg herausstellte;
    – die Minuten, die er Konferenzen, Vertragsverhandlungen und den vielen Verpflichtungen als Leiter des besten Stahlwerks des Landes abgerungen hatte, beinahe mit schlechtem Gewissen, als ginge es um eine heimliche Liebschaft;
    – der eine Gedanke, an dem er zehn Jahre lang unerschütterlich festgehalten hatte, der alles, was er tat und sah, bestimmte, der Gedanke, der ihn begleitete, wenn er die Häuser einer Stadt betrachtete, die Gleise einer Bahnlinie, das Licht in den Fenstern eines entfernten Bauernhauses oder das Messer in der Hand einer schönen Frau, die bei einem Bankett ein Stück

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