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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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Fahrgäste unvermittelt mehrere Bauwerke in der Ferne und darüber ein schwaches rötliches Glühen am Himmel, das zuckend aufleuchtete, als würden die Bauwerke atmen.
    Als der Güterzug vorüber war, sahen sie rechteckige Bauwerke, von Dampfschwaden umgeben. Die Strahlen einiger heller Scheinwerfer schnitten pfeilgerade Lichtbündel durch die Schwaden. Der Dampf war so rot wie der Himmel.
    Was dann sichtbar wurde, sah nicht aus wie ein Gebäude, sondern eher wie ein Gehäuse aus kariertem Glas, das Träger, Kräne und Stützen in einem dichten grellen, orangenen Flammenmeer umgab.
    Die Fahrgäste konnten sich von dem, was sich wie eine Stadt über viele Meilen ausbreitete, unbewohnt und doch lebendig, kein vollständiges Bild machen. Sie sahen Türme, die aussahen wie verdrehte Wolkenkratzer, in der Luft schwebende Brücken und massive Mauern, die aus unerwarteten Öffnungen Feuer spien. Sie sahen eine Reihe rotglühender Metallzylinder, die sich durch die Nacht bewegten.
    In der Nähe der Gleise tauchte ein Bürogebäude auf. Das große Leuchtschild R EARDEN S TEEL auf seinem Dach erhellte den Innenraum der vorbeifahrenden Wagen.
    Einer der Fahrgäste, ein Wirtschaftsprofessor, bemerkte an seinen Begleiter gewandt: „Was bedeutet schon ein Einzelner im Verhältnis zu den gigantischen gemeinschaftlichen Errungenschaften unseres industriellen Zeitalters?“ Ein anderer, ein Journalist, notierte sich für seine Kolumne: „Hank Rearden ist die Sorte Mensch, die alles, was sie in die Hand nimmt, mit ihrem Namen versieht. Der Leser mag daraus seine eigenen Schlüsse über den Charakter Hank Reardens ziehen.“
    Der Zug raste weiter in die Dunkelheit, als hinter einem länglichen Bauwerk ein roter Schwaden in den Himmel aufschoss. Die Fahrgäste achteten nicht darauf. Das Gießen einer Charge Stahl war für sie kein bemerkenswertes Ereignis.
    Es war die erste Charge für die erste Bestellung von Rearden-Metall.
    Für die Arbeiter am Abstichloch des Hochofens im Stahlwerk war der erste Austritt des flüssigen Metalls wie eine Offenbarung. Der dünne Strahl, der durch den Raum floss, war weiß wie pures Sonnenlicht. Schwarze Dampfschwaden stiegen auf, von feurigem Rot durchzogen. Funken schossen pulsierend in die Höhe, als spritzten sie aus einer offenen Schlagader. Die Luft war wie zerfetzt, Spiegelbild einer unsichtbaren rasenden Flamme. Rote Klumpen wirbelten durch die Luft, als könnte kein von Menschen geschaffenes Bauwerk sie aufhalten, als würden sie die Pfeiler, Träger und Kranbrücken verzehren. Doch das flüssige Metall selbst sah nicht zerstörerisch aus. Es war ein langgezogener weißer Bogen, glänzend wie Satin und mit dem freundlichen Strahlen eines Lächelns. Gefügig floss es durch eine tönerne Rinne, deren spröde Ränder es eindämmten. Von dort stürzte es sechs Meter hinab in eine Gießpfanne mit einem Fassungsvermögen von zweihundert Tonnen. Ein Meer von Sternen hing über dem Strom, das aus seiner ruhigen, glatten Oberfläche entsprang und fein wie Spitze und unschuldig wie eine Wunderkerze aussah. Erst bei genauerem Hinsehen konnte man erkennen, dass der weiße Satin brodelte. Hier und da spritzten Tropfen in die Höhe und fielen herab: Sie waren aus Metall, kühlten beim Aufprall auf den Boden ab und gingen in Flammen auf.
    Zweihundert Tonnen eines Metalls, das härter werden sollte als Stahl, bei einer Temperatur von mehr als zweitausendzweihundert Grad verflüssigt, hatten die Macht, jede Wand des Bauwerks und jeden der Männer, die in ihrer Nähe arbeiteten, auszulöschen. Doch jeder Zentimeter seines Laufs, jedes Kilo seines Drucks und jedes Molekül, das es enthielt, wurden gezielt gelenkt und waren zehn Jahre lang genau geplant und berechnet worden.
    Das rotglühende Leuchten wirbelte durch die Dunkelheit der Halle und streifte hin und wieder das Gesicht eines Mannes, der in einer entfernten Ecke stand; er lehnte an einem Pfeiler und beobachtete das Geschehen. Flüchtig fiel der Lichtschein auf seine Augen, die wie blassblaues Eis aussahen, dann auf den schwarzen Steg des Stahlpfeilers und die aschblonden Strähnen seines Haars, dann auf den Gürtel seines Trenchcoats und die Manteltaschen, in denen er seine Hände verbarg. Er war hochgewachsen und hager. Er war schon immer größer gewesen als die Menschen um ihn herum. Er hatte auffallend vorstehende Wangenknochen und deutliche Gesichtsfalten. Doch die Falten waren nicht altersbedingt, er hatte sie immer schon gehabt, sodass er im

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