Der Streik
jedem Mann in diesem Raum und der ganzen Welt außerhalb dieser Mauern galt.
„Ich danke Ihnen allen“, sagte sie.
Der Großteil der Männer war ihr schon oft begegnet. Sie sahen sie an, und als sie den Kopf hob, wurde vielen von ihnen erstmals und zu ihrem Erstaunen bewusst, dass das Gesicht ihrer Betriebsleitenden Vizepräsidentin das einer Frau war – und ein wunderschönes noch dazu.
Jemand hinten in der Menge rief plötzlich gut gelaunt: „Zum Teufel mit Jim Taggart!“
Die Antwort kam wie eine Explosion. Die Männer lachten, jubelten, applaudierten. Die Reaktion stand nicht im Verhältnis zu der Aussage, aber sie hatte ihnen die Entschuldigung geliefert, die sie brauchten. Sie schienen dem Sprecher in frechem Trotz gegen die Obrigkeit zu applaudieren. Aber jeder im Raum wusste, wem sie tatsächlich zujubelten.
Sie hob ihre Hand. „Jubeln Sie nicht zu früh“, sagte sie lachend. „Warten Sie bis heute in einer Woche. Dann sollten wir feiern. Und glauben Sie mir, das werden wir!“
Sie ließen das Los entscheiden, wer den ersten Zug fahren durfte. Sie zog aus einem Haufen gefalteter Zettel, der all ihre Namen enthielt, einen heraus. Der Gewinner war nicht anwesend, aber einer der besten Männer im gesamten Schienennetz, Pat Logan, Lokführer des Taggart Comet aus der Sektion Nebraska.
„Telegrafieren Sie Pat und teilen Sie ihm mit, dass er zu einem Gütertransport degradiert wurde“, sagte sie zu Eddie. Ganz nebenbei, als wäre es eine spontane Entscheidung, wovon sich aber niemand täuschen ließ, fügte sie hinzu: „Ach ja, und sagen Sie ihm, dass ich auf dieser Fahrt im Führerstand mitfahren werde.“
Ein alter Lokführer, der neben ihr stand, grinste und sagte: „Das hatte ich mir schon gedacht, Miss Taggart.“
*
Rearden war in New York, als Dagny ihn aus ihrem Büro anrief. „Hank, ich gebe morgen eine Pressekonferenz.“
Er lachte laut auf. „Nein!“
„Doch.“ Ihre Stimme klang ernst, aber auf gefährliche Weise ein wenig zu ernst. „Plötzlich haben mich die Zeitungen entdeckt und stellen Fragen. Ich werde sie ihnen beantworten.“
„Dann wünsche ich Ihnen viel Vergnügen.“
„Das werde ich haben. Sind Sie morgen in der Stadt? Ich hätte Sie gerne mit an Bord.“
„Gut. Das lasse ich mir nicht entgehen.“
Die Reporter, die zur Pressekonferenz ins Büro der John-Galt-Linie kamen, waren junge Männer, die dazu erzogen worden waren zu denken, dass es ihre Aufgabe sei, die wahre Natur von Ereignissen vor der Welt zu verbergen. Es gehörte zu ihren täglichen Pflichten, Personen des öffentlichen Lebens zuzuhören, die in sorgfältig gewählten Sätzen, die keinerlei Bedeutung hatten, über das Gemeinwohl sprachen. Es war ihre tägliche Aufgabe, Worte in jeder erdenklichen Kombination miteinander zu verketten, solange nur keine Wortfolge entstand, die etwas Konkretes aussagte. Das Interview, das ihnen nun gegeben wurde, konnten sie nicht verstehen.
Dagny Taggart saß an ihrem Schreibtisch in einem Büro, das aussah wie ein schäbiges Kellerloch. Sie trug ein dunkelblaues Kostüm mit einer weißen Bluse – beides meisterlich geschneidert –, das ihr einen Ausdruck formeller, fast militärischer Eleganz verlieh. Sie saß gerade, und ihr Auftreten war streng und würdevoll – vielleicht eine Spur zu würdevoll.
Rearden hing in einer Ecke des Raumes auf einem beschädigten Lehnstuhl, seine langen Beine über eine Lehne gelegt, während sein Oberkörper sich gegen die andere stützte. Sein Auftreten war angenehm informell – vielleicht eine Spur zu informell.
Mit deutlicher, eintöniger Stimme, als handelte es sich um einen militärischen Rapport, zählte Dagny – ohne in ihre Unterlagen zu sehen und indem sie die Männer gerade ansah – die technischen Daten der John-Galt-Linie auf, die exakten Zahlen über die Eigenschaften der Schienen, die Tragfähigkeit der Brücke, ihre Konstruktion, die Kosten. Dann erklärte sie im trockenen Ton eines Bankiers die finanziellen Aussichten der Bahnlinie und sprach über die großen Gewinne, die sie sich erhoffte. „Das ist alles“, sagte sie.
„Alles?“, sagte einer der Journalisten. „Wollen Sie uns nicht eine Botschaft für die Öffentlichkeit mitgeben?“
„Das war meine Botschaft.“
„Aber verdammt … ich meine, werden Sie sich nicht verteidigen?“
„Wogegen?“
„Wollen Sie uns nicht etwas sagen, das den Bau der Strecke rechtfertigt?“
„Das habe ich.“
Ein Mann, dessen Mund sich zu einem permanenten
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