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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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langes, tiefes Pfeifgeräusch hörte.
    „Was haben Sie eben gesagt, Miss Taggart?“
    „Ich sagte, einhundert Meilen pro Stunde – in den Steigungen, in den Kurven, auf der gesamten Strecke.“
    „Aber sollten Sie die Geschwindigkeit nicht eher niedriger ansetzen als üblich … Miss Taggart, nehmen Sie denn gar keine Rücksicht auf die öffentliche Meinung?“
    „Aber natürlich . Wenn es nicht um die öffentliche Meinung ginge, wäre eine Durchschnittsgeschwindigkeit von fünfundsechzig Meilen pro Stunde völlig ausreichend.“
    „Wer wird diesen Zug führen?“
    „Das hat mir einige Schwierigkeiten bereitet. Sämtliche Taggart-Lokführer haben sich dazu freiwillig gemeldet. Dasselbe gilt für die Beimänner, die Bremser und die Schaffner. Wir mussten für jede Stelle der Zugbesatzung das Los entscheiden lassen. Der Lokführer wird Pat Logan vom Taggart Comet sein, der Beimann Ray McKim. Ich selbst werde im Führerstand mitfahren.“
    „Unmöglich!“
    „Bitte kommen Sie zur Eröffnung. Sie findet am zweiundzwanzigsten Juli statt. Die Presse ist sehr herzlich eingeladen. Im Gegensatz zu meiner üblichen Politik bin ich mittlerweile regelrecht vernarrt in die Öffentlichkeit. Wirklich, ich hätte gerne Scheinwerfer, Radiomikrofone und Fernsehkameras. Ich schlage auch vor, dass Sie einige Kameras im Umkreis der Brücke positionieren. Der Einsturz der Brücke würde Ihnen sicher einige interessante Bilder liefern.“
    „Miss Taggart“, fragte Rearden, „warum haben Sie nicht erwähnt, dass auch ich in dieser Lokomotive mitfahren werde?“
    Sie sah quer durch den Raum zu ihm hin, und einen Augenblick lang waren sie beide allein und sahen einander in die Augen.
    „Aber natürlich, entschuldigen Sie, Mr. Rearden“, sagte sie.
    *
    Sie sah ihn erst wieder, als sie einander am 22. Juli über den Bahnsteig des Taggart-Bahnhofes in Cheyenne hinweg anblickten.
    Sie hielt nach niemandem Ausschau, als sie hinaus auf den Bahnsteig trat: Sie hatte den Eindruck, als wären all ihre Sinne miteinander verschmolzen, sodass sie nicht in der Lage war, den Himmel, die Sonne oder die Geräusche der enormen Menschenmenge voneinander zu trennen, sondern nur eine überwältigende seelische Erschütterung und Helligkeit wahrnahm.
    Dennoch war er die erste Person, die sie sah, und sie konnte nicht sagen, für wie lange er auch die einzige blieb. Er stand neben der Lokomotive des John-Galt-Zuges und sprach mit jemandem, der außerhalb ihres Wahrnehmungsbereiches lag. Er trug graue Hosen und ein Hemd, er sah damit aus wie ein geschickter Mechaniker, doch die Gesichter ringsum starrten ihn an, weil er Hank Rearden von Rearden Steel war. Hoch über ihm sah sie die Initialen TT auf der silbernen Front der Lokomotive. Die Linien der Lokomotive verliefen schräg nach hinten und reichten bis in die Unendlichkeit.
    Trotz der Entfernung und der vielen Menschen, die sie voneinander trennten, richtete er seinen Blick in dem Augenblick auf sie, als sie heraus auf den Bahnsteig kam. Sie sahen einander an, und sie wusste, dass er dasselbe empfand wie sie. Dies hier war für sie kein feierliches Unternehmen, von dem ihrer beider Zukunft abhing, sondern einfach ein Tag der Freude. Ihre Arbeit war getan. In diesem Moment gab es keine Zukunft. Sie hatten sich die Gegenwart verdient.
    Nur wenn man sich enorm wichtig fühlt, hatte sie ihm gesagt, kann man sich auch wahrhaft leicht fühlen. Was auch immer diese Zugfahrt für andere darstellte, sie beide sahen sich selbst als das einzig Wichtige an diesem Tag. Was auch immer andere im Leben suchten, für sie beide war ihr Recht auf das, was sie jetzt fühlten, das Einzige, was sie wollten. Es war, als riefen sie es sich gegenseitig über den Bahnsteig hinweg zu.
    Dann wandte sie den Blick von ihm ab.
    Sie bemerkte, dass auch sie angestarrt wurde, dass Menschen um sie herumstanden, dass sie lachte und Fragen beantwortete.
    Sie hatte nicht mit einer so großen Menschenmenge gerechnet. Menschen füllten den Bahnsteig, die Gleise, den Platz vor dem Bahnhof; sie standen auf den Dächern der Güterwaggons, auf den Seitengleisen und an den Fenstern aller Häuser ringsum. Etwas hatte sie alle angezogen, etwas lag in der Luft, das im letzten Augenblick sogar James Taggart dazu gebracht hatte, der Eröffnung der John-Galt-Linie beiwohnen zu wollen. Sie hatte es ihm verboten. „Wenn du kommst, Jim“, hatte sie gesagt, „lasse ich dich aus deinem eigenen Taggart-Bahnhof werfen. Du wirst bei diesem einen

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