Der Streik
Baumeisters mit stolz gestrafften Schultern und vom Wind zerzaustem Haar. Er musste laut auflachen, weil er es als einen lustigen Scherz auf ihre Kosten empfand. Und er empfand eine leichte Genugtuung, ein Gefühl des Triumphes: die Überlegenheit, sie ausgetrickst zu haben.
Während er an seinem Drink nippte, sah er hinüber zur Schlafzimmertür und dachte an den üblichen Ausgang eines Abenteuers dieser Sorte. Er dachte, dass es wohl einfach wäre: Das Mädchen war zu verzaubert, um sich zu wehren. Wie sie so mit gebeugtem Kopf unter einer Lampe saß, sah er den rötlich bronzenen Glanz in ihrem Haar und einen Streifen zarter, strahlender Haut auf ihrer Schulter. Er sah weg. Wozu die Mühe?, dachte er.
Das bisschen Verlangen, das er verspürte, war nicht mehr als ein Gefühl körperlichen Unbehagens. Der stärkste Impuls, der ihn zum Handeln drängte, war nicht der Gedanke an das Mädchen, sondern an all die anderen Männer, die eine solche Gelegenheit nicht verstreichen lassen würden. Er gestand sich ein, dass sie ein wesentlich besserer Mensch war als Betty Pope, vielleicht der beste Mensch, der sich ihm je angeboten hatte. Das Eingeständnis ließ ihn kalt. Er fühlte nicht mehr, als er für Betty Pope gefühlt hatte. Er fühlte nichts. Die Aussicht, sich mit ihr zu vergnügen, war die Mühe nicht wert, er hatte keine Lust, sich zu vergnügen.
„Es wird langsam spät“, sagte er. „Wo wohnen Sie? Lassen Sie mich Ihnen noch einen Drink einschenken, und dann bringe ich Sie nach Hause.“
Als er sich an der Tür einer schäbigen Fremdenpension in einem Armenviertel von ihr verabschiedete, zögerte sie und kämpfte dagegen an, ihm die Frage zu stellen, die sie ihm liebend gerne gestellt hätte.
„Werde ich …“, begann sie und unterbrach sich.
„Was?“
„Ach, nichts, gar nichts.“
Er wusste, dass die Frage war: „Werde ich Sie wiedersehen?“ Er hatte Spaß daran, nicht zu antworten, obwohl er wusste, dass sie ihn gerne wiedersehen würde.
Noch einmal sah sie zu ihm auf, als wäre es vielleicht zum letzten Mal, und sagte dann ernst und mit leiser Stimme: „Mr. Taggart, ich bin Ihnen sehr dankbar, weil Sie … Ich meine, jeder andere Mann hätte versucht … Ich meine, das wäre alles, was ein anderer gewollt hätte, aber Sie sind so viel besser, ach, so viel besser!“
Mit einem leichten, interessierten Lächeln beugte er sich näher an sie heran. „Hätten Sie?“, fragte er.
Sie wich vor ihm zurück, plötzlich erschrocken über ihre eigenen Worte. „So habe ich es doch nicht gemeint!“, stieß sie hervor. „Mein Gott, ich wollte nicht darauf anspielen … oder … oder …“ Wütend errötete sie, wirbelte herum und verschwand über die lange, steile Treppe der Fremdenpension.
Er stand auf dem Bürgersteig und verspürte ein merkwürdiges schweres, verschwommenes Gefühl der Genugtuung: Er fühlte sich, als hätte er eine tugendhafte Tat vollbracht, als hätte er sich an jeder Person, die entlang der dreihundert Meilen langen Strecke der John-Galt-Linie gestanden und gejubelt hatte, gerächt.
*
Als ihr Zug Philadelphia erreichte, verließ Rearden sie ohne ein Wort, als verdienten die Nächte ihrer Rückreise in der taghellen Wirklichkeit bevölkerter Bahnsteige und vorbeifahrender Lokomotiven – in der Wirklichkeit, die er respektierte – keine Erwähnung mehr. Allein fuhr sie nach New York weiter. Doch spät am selben Abend läutete die Türglocke ihrer Wohnung, und Dagny wusste, dass sie damit gerechnet hatte.
Er sagte nichts, als er eintrat, er sah sie nur an und machte seine stille Anwesenheit zu einer innigeren Begrüßung, als Worte es gewesen wären. In seinem Gesicht lag die Andeutung eines geringschätzigen Lächelns, mit dem er sich eingestand und darüber lustig machte, dass sie ebenso wie er Stunden der Ungeduld verbracht hatte. Er stand inmitten ihres Wohnzimmers und sah sich langsam um. Das war also ihre Wohnung, der eine Ort der Stadt, der über zwei Jahre der Mittelpunkt seiner Qual gewesen war, der Ort, an den er nicht denken durfte und es doch tat, den er nicht betreten durfte – und den er jetzt mit der ungezwungenen, unangekündigten Selbstverständlichkeit eines Besitzers betrat. Er setzte sich in einen Lehnstuhl und streckte die Beine aus – sie stand vor ihm, fast als benötigte sie seine Erlaubnis, um sich zu setzen, und als machte es ihr Spaß, darauf zu warten.
„Soll ich dir sagen, dass du mit dem Bau der Linie ganze Arbeit geleistet hast?“,
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