Der Streik
verreisen.“
„Ja doch, ich weiß! Aber könnte ich nicht einen offiziellen Termin mit dir vereinbaren, lange vor der Zeit, wie jeder beliebige Eisenbahnmanager, Autohersteller oder Trödel-, pardon, Altmetallhändler? Man sagt, du hieltest deine Termine immer ein. Selbstverständlich legst du das Datum fest, wie es dir passt.“ Sie nahm eine betont weibliche Positur ein, indem sie ihren Kopf senkte und mit den Augen von unten zu ihm aufblickte. Etwas zu beiläufig und zu vorsichtig fragte sie: „Ich hatte zwar den zehnten Dezember im Sinn, aber vielleicht wäre dir der neunte oder der elfte lieber?“
„Das spielt für mich keine Rolle.“
Mit sanfter Stimme sagte sie: „Der zehnte Dezember ist unser Hochzeitstag, Henry.“
Alle schauten auf sein Gesicht. Vielleicht hatten sie einen Ausdruck von Schuldbewusstsein erwartet, doch sie sahen stattdessen ein leicht amüsiertes Lächeln. Unmöglich, dass sie ihn damit in eine Falle locken wollte, dachte er. Es wäre zu leicht, sie zu umgehen, indem er sich weigerte, sich seiner Vergesslichkeit zu schämen und ihr damit eine Abfuhr erteilte. Schließlich wusste sie, dass sein Gefühl ihr gegenüber ihre einzige Handhabe gegen ihn war. Sie hatte wohl vielmehr auf eine stolze, indirekte Art seine Zuneigung für sie auf die Probe stellen und ihre eigene zum Ausdruck bringen wollen, dachte er. Eine festliche Gesellschaft entsprach zwar nicht seiner, aber eben doch ihrer Art, einen Hochzeitstag zu feiern. Ihm bedeutete eine solche Gesellschaft nichts, doch für sie war sie der höchste Tribut, den sie ihm und ihrer Ehe zollen konnte. Er musste ihre Absicht anerkennen, dachte er, auch wenn er ihre Einstellung nicht teilte und nicht einmal wusste, ob er noch Wert auf irgendeinen Tribut von ihr legte. Er musste sie gewinnen lassen, dachte er, weil sie sich ihm ausgeliefert hatte.
Er schenkte ihr ein offenes, versöhnliches Lächeln und gab sich geschlagen. „In Ordnung, Lillian“, sagte er ruhig. „Ich verspreche dir, am Abend des zehnten Dezember hier zu sein.“
„Danke, Liebling!“ Ihr Lächeln war merkwürdig verschlossen, er fragte sich, weshalb er einen Augenblick lang den Eindruck hatte, dass alle von seiner Haltung enttäuscht waren.
Wenn sie ihm vertraute, dachte er, wenn sie noch etwas für ihn empfand, dann würde er ihr Vertrauen erwidern. Er musste es loswerden. Mit Worten ließen sich Gedanken klären, und heute Abend war es ihm unmöglich, Worte zu irgendeinem anderen Zweck zu vergeuden. „Es tut mir leid, dass ich mich verspätet habe, Lillian, aber heute haben wir im Stahlwerk die erste Charge Rearden-Metall gegossen.“
Einen Augenblick lang schwiegen alle. Dann sagte Philip: „Wie schön.“
Die anderen blieben stumm.
Er griff in seine Manteltasche. Als er das Armband berührte, war alles andere wie weggefegt, er fühlte sich wie vorhin, als das flüssige Metall vor seinen Augen als Strahl durch den Raum geflossen war.
„Ich habe dir ein Geschenk mitgebracht, Lillian.“
Es war ihm nicht bewusst, dass er kerzengerade und mit erhobenem Arm vor ihr stand wie ein Kreuzritter, der seiner Geliebten nach siegreicher Schlacht eine Trophäe reicht, als er eine unscheinbare Kette aus Metall in ihren Schoß fallen ließ.
Lillian Rearden hob sie auf und hielt sie über zwei Fingerspitzen gehängt gegen das Licht. Die Kettenglieder waren massig und grob, das glänzende Metall hatte eine sonderbare Färbung, es war grünlich blau.
„Was ist das?“, fragte sie.
„Der erste Gegenstand, der aus der ersten Charge für die erste Bestellung von Rearden-Metall hergestellt worden ist.“
„Du meinst, es ist ebenso kostbar wie ein Stück Eisenbahnschiene?“, fragte sie.
Er schaute sie fassungslos an.
Sie ließ das Armband klimpern und im Licht funkeln. „Aber Henry, das ist wunderbar! Wie originell! Ganz New York wird staunen, wenn ich Schmuck trage, der aus demselben Werkstoff hergestellt ist wie Brückenträger, Lastwagenmotoren, Küchenherde, Schreibmaschinen und – was hast du neulich noch aufgelistet, Liebling? – Suppenkessel?“
„Gütiger Himmel, Henry, du bist so selbstgefällig!“, sagte Philip.
Lillian lachte. „Er ist ein Schwärmer. Das sind alle Männer. Aber ich weiß es zu schätzen, Liebling. Schließlich zählt nicht das Geschenk, sondern die Absicht.“
„Die Absicht ist durch und durch egoistisch, wenn du mich fragst“, sagte Reardens Mutter. „Jeder andere Mann hätte seiner Frau ein diamantenes Armband
Weitere Kostenlose Bücher