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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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schlaksigen Körper keine bestimmte Ursache dafür finden konnten. Er war achtunddreißig, wurde aber aufgrund seiner chronischen Müdigkeit zuweilen älter geschätzt als sein Bruder.
    „Du solltest lernen, dich zu vergnügen“, sagte Philip. „Sonst wirst du noch abgestumpft und borniert. Engstirnig, verstehst du? Du solltest aus deinem kleinen Schneckenhaus herauskriechen und einen Blick auf die Welt werfen. Wenn du so weitermachst, geht das Leben an dir vorbei.“
    Nur mit Mühe konnte Rearden seinen Zorn unterdrücken, indem er sich klarzumachen versuchte, dass Philip tatsächlich um ihn besorgt war. Unmut sei fehl am Platz, sagte er sich. Sie meinten es doch alle gut mit ihm. Und dennoch wünschte er sich, sie würden sich nicht gerade um diese Dinge Sorgen machen.
    „Gerade heute habe ich mich sogar sehr gefreut, Phil“, entgegnete er lächelnd – und wunderte sich, dass Philip ihn nicht fragte, worüber.
    Er wünschte, einer von ihnen würde ihn danach fragen. Er hatte Mühe, sich zu konzentrieren. Noch immer hatte er den Anblick des flüssigen Metalls vor Augen. Er füllte sein Bewusstsein aus und ließ keinen Raum für anderes.
    „Du hättest dich wenigstens entschuldigen können, aber ich habe offenbar wieder zu viel erwartet.“ Es war die Stimme seine Mutter. Er drehte sich um. Sie warf ihm einen gekränkten Blick zu, in dem die ganze ausdauernde Leidensfähigkeit der Ohnmächtigen lag.
    „Mrs. Beecham war zum Abendessen hier“, sagte sie vorwurfsvoll.
    „Wie bitte?“
    „Mrs. Beecham. Meine Freundin Mrs. Beecham.“
    „Ja, und?“
    „Ich habe dir doch von ihr erzählt, oft sogar, aber du merkst dir ja nie, was ich sage. Mrs. Beecham war so darauf erpicht, dich kennenzulernen, aber sie musste nach dem Abendessen gehen. Sie konnte nicht länger warten. Mrs. Beecham ist eine sehr beschäftigte Person. Sie hätte dir allzu gern von unserer wertvollen Arbeit in der Gemeindeschule erzählt, vom Werkunterricht etwa und von den herrlichen eisernen Türknöpfen, die die kleinen Kinder aus den Elendsvierteln ganz allein herstellen.“
    Er musste all seine Nachsicht zusammennehmen, um ruhig zu antworten: „Es tut mir leid, wenn ich dich enttäuscht habe, Mutter.“
    „Es tut dir überhaupt nicht leid. Wenn es dir etwas bedeuten würde, hättest du ja hier sein können. Aber wann hat dir schon jemals irgendjemand außer dir selbst etwas bedeutet? Du interessierst dich für keinen von uns oder für irgendetwas, was wir tun. Du glaubst, es genüge, die Rechnungen zu bezahlen, ist es nicht so? Geld! Etwas anderes kennst du nicht. Und Geld ist auch das Einzige, was wir von dir bekommen. Hast du uns jemals etwas von deiner Zeit geschenkt?“
    Wenn das bedeutete, dass sie ihn vermisste, dann bedeutete es Zuneigung, dachte er. Und wenn es Zuneigung bedeutete, dann war dieses heftige Unbehagen, das ihn verstummen ließ, damit seine Stimme nicht seine Abscheu verriet, ungerecht.
    „Wir sind dir egal“, fauchte sie ihn beinahe flehentlich an. „Lillian hätte dich heute gebraucht. Sie wollte ein dringliches Problem mit dir besprechen, aber ich habe ihr gesagt, es sei zwecklos, auf dich zu warten.“
    „Ach Mutter, so wichtig ist es doch nicht!“, warf Lillian ein. „Jedenfalls nicht für Henry.“
    Er wandte sich ihr zu. Er stand mitten im Raum und hatte seinen Mantel noch an, als wäre er in einer gänzlich unwirklichen Situation gefangen, die er nicht fassen konnte.
    „Es ist völlig unbedeutend“, sagte Lillian fröhlich. Er hätte nicht sagen können, ob ihre Stimme entschuldigend oder überheblich klang. „Es geht nicht ums Geschäft. Es ist ganz und gar ungeschäftlich.“
    „Um was geht es denn?“
    „Nur um eine Gesellschaft, die ich geben möchte.“
    „Eine Gesellschaft?“
    „Schau mich nur nicht so entsetzt an, sie soll nicht morgen Abend stattfinden. Ich weiß, wie beschäftigt du bist, aber sie soll in drei Monaten stattfinden, und es soll ein großes, ganz besonderes Ereignis werden. Würdest du mir also versprechen, dass du an diesem Abend hier sein wirst und nicht in Minnesota, Colorado oder Kalifornien?“
    Sie sah ihn sonderbar an und sprach etwas zu obenhin und zu entschlossen zugleich. Dabei lächelte sie mit einer aufgesetzten Unschuld, als hielte sie einen versteckten Trumpf in der Hand.
    „In drei Monaten?“, fragte er. „Aber du weißt doch, dass ich nicht so weit im Voraus planen kann, weil mich jederzeit eine unaufschiebbare Angelegenheit zwingen könnte zu

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