Der Streik
Klempnerarbeiten zu begeistern.“
Dann drehte sie den Kopf und schaute Rearden an, der am anderen Ende des langgezogenen Raumes im Schatten stand. Ihre Arme streckten sich ihm graziös wie zwei Schwanenhälse entgegen.
„Aber Liebling“, sagte sie in heiter amüsiertem Ton, „so früh schon zu Hause? Gab es nicht noch irgendwo Schlacke aufzufegen oder eine Düse zu polieren?“
Alle drehten sich nach ihm um – seine Mutter, sein Bruder Philip und Paul Larkin, ein alter Freund der Familie.
„Es tut mir leid“, erwiderte er. „Ich weiß, ich bin spät.“
„Behaupte nicht, es täte dir leid“, fuhr seine Mutter ihn an. „Du hättest ja anrufen können.“ Er schaute sie an und versuchte, sich an etwas zu erinnern. „Du hattest versprochen, heute zum Abendessen zu Hause zu sein.“
„Ach ja, das stimmt. Es tut mir wirklich leid, aber heute haben wir im Stahlwerk …“ Er hielt inne, ohne zu wissen, was ihn daran hinderte, ausgerechnet den Satz zu Ende zu sprechen, den zu sagen er nach Hause gekommen war. Stattdessen fügte er hinzu: „Es ist nur so, dass ich … nicht daran gedacht habe.“
„Das ist es ja, was Mutter meint“, sagte Philip.
„Aber lasst ihn doch erst einmal zu sich kommen. Er ist ja noch gar nicht ganz da, er ist immer noch im Stahlwerk“, sagte seine Frau fröhlich. „Leg doch den Mantel ab, Henry.“
Paul Larkin schaute ihn mit dem hingebungsvollen Blick eines scheuen Hundes an.
„Hallo, Paul“, sagte Rearden. „Seit wann bist du hier?“
„Ach, ich habe den Zug um halb sechs von New York genommen.“ Larkin lächelte dankbar für die Aufmerksamkeit.
„Ärger?“
„Wer hat heutzutage keinen Ärger?“ Das Lächeln auf Larkins Gesicht wurde mutlos und sollte andeuten, dass seine Antwort rein philosophisch gemeint war. „Aber nein, diesmal gibt es keinen besonderen Ärger. Ich wollte einfach mal bei dir vorbeischauen.“
Seine Frau lachte auf. „Jetzt hast du ihn aber enttäuscht, Paul.“ Sie wandte sich Rearden zu. „Leidest du an einem Minderwertigkeits- oder an einem Überlegenheitskomplex, Henry? Glaubst du, niemand könnte dich nur um deiner Person willen besuchen wollen, oder glaubst du, niemand käme ohne deine Unterstützung aus?“
Er wollte verärgert widersprechen, aber sie lächelte ihn an, als hätte sie sich nur einen geistreichen Scherz erlaubt, und da er für derlei unverbindliches Geplänkel nichts übrig hatte, antwortete er nicht. Er schaute sie an und wunderte sich über die Dinge, die er nie hatte verstehen können.
Lillian Rearden galt allgemein als Schönheit. Sie war groß und anmutig und trug mit Vorliebe hochtaillierte Kleider im Empirestil, die ihr ausgezeichnet standen. Man hätte meinen können, ihr erlesenes Profil entstamme einer Kamee aus derselben Epoche: Die klaren, stolzen Konturen und das klassisch frisierte, hellbraun glänzende und gewellte Haar waren von reiner, gebieterischer Schönheit. Blickte man ihr jedoch geradewegs ins Gesicht, erschrak man enttäuscht. Ihr Gesicht war nicht schön. Das mochte an ihren Augen liegen: Sie waren von undefinierbarer heller Farbe, weder grau noch braun, leblos und nichtssagend. Schon immer hatte Rearden sich gefragt, weshalb in ihrem Gesicht keine Fröhlichkeit lag, obwohl sie so häufig amüsiert wirkte.
„Doch, doch, wir sind uns schon begegnet, Liebling“, sagte sie in Erwiderung auf seinen stummen, forschenden Blick, „auch wenn du dir dessen offenbar nicht sicher bist.“
„Hast du schon zu Abend gegessen, Henry?“, fragte seine Mutter mit tadelnd ungeduldigem Unterton, als wäre sein Hunger eine persönliche Beleidigung.
„Ja … nein … ich hatte keinen Hunger.“
„Ich lasse etwas bringen …“
„Nein, Mutter, nicht jetzt, das ist nicht nötig.“
„Es ist doch immer dasselbe mit dir.“ Sie sah ihn nicht an, sondern sprach ins Leere. „Es hat keinen Sinn, dir etwas Gutes tun zu wollen, du weißt es nicht zu schätzen. Ich konnte dich noch nie dazu bringen, anständig zu essen.“
„Henry, du arbeitest zu viel“, sagte Philip. „Das tut dir nicht gut.“
Rearden lachte. „Aber ich arbeite gern.“
„Das redest du dir doch nur ein. Das ist eine Art Neurose, weißt du? Jemand, der sich derart in seine Arbeit vergräbt, läuft vor irgendetwas davon. Du solltest dir ein Steckenpferd zulegen.“
„Um Himmels Willen, Phil!“, sagte er und bedauerte seinen gereizten Ton.
Philip war seit jeher kränklich gewesen, obgleich die Ärzte in seinem schlaffen,
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