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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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mitgebracht, wenn er ihr ein Geschenk machen wollte, weil es ihm darum gehen würde, ihr eine Freude zu machen und nicht sich selbst. Aber nur weil er ein neues Blech erfunden hat, glaubt Henry, es müsse für jedermann wertvoller sein als Diamanten, nur weil er derjenige ist, der es erfunden hat. So war er schon im Alter von fünf Jahren – der selbstgefälligste Bengel, den man sich vorstellen kann – und mir war schon damals klar, dass aus ihm der eigennützigste Mensch auf Gottes Erden werden würde.“
    „Aber nein, es ist reizend“, widersprach Lillian. „Es ist bezaubernd.“ Sie ließ das Armband auf den Tisch fallen, stand auf, legte ihre Hände auf Reardens Schultern, stellte sich auf die Zehenspitzen, küsste ihn auf die Wange und sagte: „Danke, Liebling.“
    Er rührte sich nicht, neigte ihr nicht einmal den Kopf entgegen.
    Nach einer Weile drehte er sich um, nahm seinen Mantel ab und setzte sich abseits der anderen ans Feuer. Das Einzige, was er fühlte, war ungeheure Erschöpfung.
    Er achtete nicht auf ihr Gerede. Mit halbem Ohr hörte er, dass Lillian ihn gegen seine Mutter in Schutz nahm.
    „Ich kenne ihn besser als du“, sagte seine Mutter. „Hank Rearden schert sich keinen Deut um Menschen, Tiere oder Pflanzen, es sei denn, sie haben in irgendeiner Form mit ihm und seiner Arbeit zu tun. Sonst zählt für ihn nichts. Ich habe nach besten Kräften versucht, ihm ein wenig Demut beizubringen. Mein Leben lang habe ich es versucht, aber umsonst.“
    Er hatte seiner Mutter Mittel in unbegrenzter Höhe angeboten und ihr freigestellt zu wohnen, wo und wie es ihr beliebte. Er fragte sich, weshalb sie darauf bestand, bei ihm zu wohnen. Er nahm an, dass sein Erfolg ihr etwas bedeutete, und wenn es so war, stellte er eine Bindung zwischen ihnen dar, die einzige Bindung, die er erkennen konnte. Wenn sie Wert darauf legte, im Haus ihres erfolgreichen Sohnes zu leben, würde er es ihr nicht verweigern.
    „Mach dir keine Hoffnungen. Du wirst aus Henry keinen Heiligen machen, Mutter“, sagte Philip. „Dazu ist er nicht geschaffen.“
    „Oh nein, Philip, da irrst du dich!“, sagte Lillian. „Du irrst gewaltig! Henry hat durchaus das Zeug zum Heiligen. Das ist ja gerade das Problem.“
    Was wollten sie von ihm, frage sich Rearden, worauf waren sie aus? Er hatte sie nie um etwas gebeten. Sie waren es, die sich an ihn klammerten und einen Anspruch auf ihn erhoben. Der Anspruch kam als Zuneigung daher, aber diese Art der Zuneigung war für ihn schwerer zu ertragen als jedwede Form von Hass. Grundlose Zuneigung verachtete er ebenso wie unverdienten Reichtum. Sie gaben vor, ihn aus irgendeinem unbekannten Grund zu lieben, und doch missachteten sie all die Dinge, für die er hätte geliebt werden wollen. Es war ihm schleierhaft, welche Reaktion auf ein solches Verhalten sie von ihm erhofften, falls es denn überhaupt eine Reaktion war, auf die sie aus waren. Aber sicher waren sie das, dachte er. Wozu sonst diese unablässigen Klagen, diese pausenlosen Beschuldigungen, er sei gleichgültig? Woher kam dieser dauernde Argwohn, als warteten sie förmlich darauf, verletzt zu werden? Es hatte ihm immer fern gelegen, sie zu verletzen, aber seit jeher hatte er ihre abwehrende, tadelnde Erwartungshaltung gespürt. Alles, was er sagte, schien sie zu verletzen. Es kam nicht auf seine Worte oder Taten an, es war fast … fast so, als verletzte sie sein bloßes Dasein. Bilde dir keinen Unsinn ein, sagte er sich streng, während er versuchte, sich mit seinem unbeugsamen Gerechtigkeitssinn einen Reim auf die Situation zu machen. Er hatte kein Recht, sie zu verurteilen, solange er sie nicht verstand. Und verstehen konnte er sie nicht.
    Hatte er sie gern? Nein, dachte er. Es gab eine Zeit, in der er sie hatte gern haben wollen, aber das war nicht dasselbe. Er hatte es um jener latenten Kraft willen gewollt, die er einst in jedem Menschen zu entdecken erwartet hatte. Heute empfand er nichts mehr für sie, nichts als jenen mitleidslosen Nullpunkt der Gleichgültigkeit, nicht einmal das Bedauern über einen Verlust. Brauchte er denn überhaupt jemanden? Sehnte er sich denn nach dem Gefühl, das er angestrebt hatte? Nein, dachte er. Hatte er sich je danach gesehnt? Ja, dachte er, in seiner Jugend, später nicht mehr.
    Sein Gefühl von Erschöpfung wuchs, und er begriff, dass es von Langeweile herrührte. Er durfte sie sich nicht anmerken lassen, dachte er, das gebot die Höflichkeit ihnen gegenüber. Also saß er reglos da und

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