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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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höchste Tugend war – ihre Fähigkeit, die gleiche Freude des Seins zu spüren wie er.

II. Die Aristokratie der Beziehungen
    D er Kalender am Himmel vor ihrem Bürofenster zeigte den 2. September. Dagny beugte sich erschöpft über ihren Schreibtisch. Das erste Licht, das bei Anbruch der Dämmerung anging, war stets der Scheinwerfer, der den Kalender anstrahlte. Sobald das weiß leuchtende Blatt oberhalb der Dächer auftauchte, ließ es die Stadt verschwimmen und beschleunigte den Einbruch der Dunkelheit.
    Während der vergangenen Monate hatte sie jeden Abend auf dieses Blatt in der Ferne geblickt. Deine Tage sind gezählt, schien es ihr sagen zu wollen – als zeigte es die Entwicklung hin zu einem ihm bekannten Ereignis an, von dem sie nichts wusste. Einst hatte der Kalender bei ihrem Wettlauf um die rechtzeitige Fertigstellung der John-Galt-Linie die Zeit gestoppt. Jetzt nahm er die Zeit in ihrem Wettlauf gegen einen unbekannten Zerstörer.
    Einer nach dem anderen waren die Menschen, die in Colorado neue Städte erbaut hatten, heimlich zu einem unbekannten Ort aufgebrochen, von dem bisher weder Nachrichten durchgedrungen noch Menschen zurückgekehrt waren. Die Städte, die sie zurückgelassen hatten, starben. Einige der von ihnen errichteten Fabriken waren herrenlos geblieben und verbarrikadiert worden; andere waren von den örtlichen Behörden beschlagnahmt worden. In beiden Fällen standen die Maschinen still.
    Sie hatte das Gefühl gehabt, als läge eine dunkle Landkarte von Colorado wie ein Kontrollpult zur Regelung des Eisenbahnverkehrs vor ihr ausgebreitet, auf dem noch ein paar vereinzelte Lichter in den Bergen aufblinkten. Eines nach dem anderen waren die Lichter ausgegangen. Einer nach dem anderen waren die Menschen verschwunden. Es geschah mit einer gewissen Regelmäßigkeit, die sie spürte, jedoch nicht bestimmen konnte. Sie hatte gelernt, beinahe mit Sicherheit vorherzusagen, wer als Nächstes gehen würde und wann; sie war nicht in der Lage, das Warum zu begreifen.
    Von den Männern, die sie einst empfangen hatten, als sie am Bahnsteig von Wyatt Junction aus dem Führerstand einer Lokomotive stieg, war nur noch Ted Nielsen, der immer noch die Fabrik von Nielsen Motors führte, übrig geblieben. „Ted, Sie werden doch nicht der Nächste sein, der geht?“, hatte sie ihn bei seinem letzten Besuch in New York gefragt und dabei versucht zu lächeln. Mürrisch hatte er geantwortet: „Ich hoffe nicht.“ „Was meinen Sie mit ‚Sie hoffen nicht‘? Sind Sie nicht sicher?“ Langsam und mit schwerer Stimme hatte er zu ihr gesagt: „Ich habe immer gedacht, dass ich lieber sterben würde, als aufzuhören zu arbeiten, Dagny. Aber das dachten auch die, die fort sind. Es erscheint mir ausgeschlossen, dass ich jemals aufhören wollen könnte. Aber noch vor einem Jahr erschien es ausgeschlossen, dass sie es jemals könnten. Diese Männer waren meine Freunde. Sie wussten, was ihr Fortgehen für uns, die Zurückbleibenden, bedeuten würde. Sie wären nicht einfach so gegangen, ohne ein Wort, und hätten uns zusätzlich der Furcht des Unerklärlichen ausgesetzt – wenn sie nicht einen äußerst wichtigen Grund gehabt hätten. Vor einem Monat sagte Roger Marsh von Marsh Electric zu mir, er werde sich an seinen Schreibtisch ketten lassen, damit er ihn nicht verlassen könne, egal, welch grässliche Versuchung ihn heimsuchen würde. Er kochte vor Wut auf die Männer, die gegangen waren. Er schwor mir, dass er es niemals tun würde. ‚Und wenn es etwas ist, dem ich mich nicht widersetzen kann‘, sagte er, ‚dann schwöre ich, dass ich noch genug von meinem Verstand behalten werde, um dir einen Brief zu hinterlassen oder einen Hinweis darauf zu geben, was es ist, damit du dir nicht das Gehirn darüber zermartern und dich fürchten musst, wie wir es jetzt tun.‘ Das hat er geschworen. Vor zwei Wochen ist er verschwunden. Er hinterließ mir keinen Brief. … Dagny, ich kann Ihnen nicht sagen, was ich tue, wenn ich es erlebe – was auch immer es war, das sie erlebt haben, als sie fortgingen.“
    Sie hatte den Eindruck, als schliche ein Zerstörer geräuschlos durch das Land und ließe durch seine Berührung die Lichter erlöschen – jemand, dachte sie erbittert, der das Prinzip des Twentieth-Century-Motors umgekehrt hatte und jetzt kinetische Energie in statische umwandelte.
    Das war der Feind, dachte sie, als sie in der hereinbrechenden Dämmerung an ihrem Schreibtisch saß, mit dem sie sich im Wettlauf

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