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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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half, eine bessere Stelle zu finden. Er antwortete nicht. In den darauffolgenden Wochen wartete sie, aber er erwähnte das Thema nicht mehr. Sie gab sich selbst die Schuld: Sie dachte, sie hätte ihn beleidigt oder er hätte es als einen Versuch verstanden, ihn auszunutzen.
    Als er ihr ein Smaragdarmband schenkte, war sie zu schockiert, um zu verstehen. In dem verzweifelten Versuch, ihn nicht zu verletzen, beteuerte sie, sie könne es nicht annehmen. „Warum nicht?“, fragte er. „Es bedeutet nicht, dass du eine schlechte Frau bist, die den üblichen Preis dafür zahlt. Hast du Angst, dass ich anfangen könnte, Bedingungen zu stellen? Vertraust du mir nicht?“ Er lachte laut über ihr verlegenes Stammeln. Den ganzen Abend über lächelte er seltsam vergnügt, während sie in einen Nachtclub gingen und sie das Armband zu ihrem abgetragenen schwarzen Kleid trug.
    Er wollte, dass sie das Armband wieder trug, und zwar an dem Abend, an dem er sie zu einer Gesellschaft bei Mrs. Cornelius Pope mitnahm. Wenn er sie schon für gut genug befand, in das Haus von Freunden mitzukommen, dachte sie – illustre Freunde, deren Namen sie bereits in den ihr unerreichbar erscheinenden Höhen der Gesellschaftsspalten der Zeitungen gelesen hatte –, durfte sie ihn nicht blamieren, indem sie ihr altes Kleid trug. Sie gab die Ersparnisse eines ganzen Jahres aus, um sich ein Abendkleid aus leuchtend grünem Chiffon mit tiefem Ausschnitt, einem Gürtel aus gelben Rosen und einer Strassschnalle zu kaufen. Als sie die strenge Wohnung mit den kalten, glitzernden Lichtern und einer Terrasse, die sich über den Dächern der Wolkenkratzer erstreckte, betrat, wusste sie, dass ihr Kleid dem Anlass nicht angemessen war, obwohl sie nicht hätte sagen können, warum. Dennoch hielt sie sich stolz aufrecht und lächelte mit dem mutigen Grundvertrauen eines Kätzchens, nach dem sich eine Hand zum Spiel ausstreckt: Leute, die sich trafen, um Spaß zu haben, würden niemanden verletzen, dachte sie.
    Nach einer Stunde hatte sich ihr Versuch zu lächeln in ein hilfloses, verwirrtes Flehen gewandelt. Dann, als sie die Leute ringsum beobachtete, verging ihr das Lächeln. Sie sah, dass die hübschen, selbstsicheren Mädchen eine abstoßende Überheblichkeit an den Tag legten, wenn sie sich mit Jim unterhielten, als respektierten sie ihn nicht und hätten es auch nie getan. Besonders eine von ihnen, eine gewisse Betty Pope, die Tochter der Gastgeberin, machte ununterbrochen Bemerkungen gegenüber Jim, die Cherryl nicht verstehen konnte, weil sie glaubte, sich verhört zu haben.
    Zunächst schenkte ihr niemand irgendwelche Beachtung, mit Ausnahme einiger erstaunter Blicke auf ihr Kleid. Nach einer Weile bemerkte sie, wie man sie anstarrte. Sie hörte, wie eine ältere Dame Jim in eifrigem Ton, als spräche sie über eine vornehme Familie, die sie nicht kannte, fragte: „Sagten Sie Miss Brooks aus Madison Square?“ Sie sah ein seltsames Lächeln in Jims Gesicht, als er mit betont deutlicher Stimme antwortete: „Ja, aus der Kosmetikabteilung in Raleighs Zehncentladen.“ Dann bemerkte sie, wie einige Leute sich ihr gegenüber übertrieben freundlich verhielten und andere sich demonstrativ abwendeten, die meisten jedoch benahmen sich vor schlichter Verwirrung taktlos und ungeschickt, und Jim betrachtete alles still und mit diesem merkwürdigen Lächeln.
    Sie versuchte ihnen aus dem Weg zu gehen, aus ihrem Blickfeld zu verschwinden. Als sie sich eben an der Seite des Raumes davonschlich, hörte sie, wie ein Mann mit einem Schulterzucken sagte: „Nun ja, Jim Taggart ist zurzeit einer der mächtigsten Männer in Washington.“ Er sagte es nicht respektvoll.
    Draußen auf der Terrasse, wo es dunkler war, hörte sie zwei Männer sprechen und fragte sich, warum sie so sicher war, dass sie über sie sprachen. Einer von ihnen sagte: „Taggart kann es sich leisten, wenn es ihm gefällt.“ Und der andere sagte etwas über das Pferd irgendeines römischen Kaisers namens Caligula.
    Sie betrachtete den allein stehenden, gerade emporragenden Turm des Taggart Buildings in der Ferne – und dann dachte sie, dass sie verstanden hätte: Diese Leute hassten Jim, weil sie ihn beneideten. Trotz allem, was sie waren, dachte sie, trotz ihrer Namen und ihres Geldes, keiner von ihnen hatte annähernd so viel erreicht wie er, keiner von ihnen hatte es dem ganzen Land gezeigt, indem er eine Eisenbahn baute, die jeder für unmöglich gehalten hatte. Zum ersten Mal erkannte sie, dass

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