Der Streik
wenn die Zeitungsleute sie fotografieren wollten, aber sie wünschte, sie würden es nicht so oft tun.
Eine alternde Reporterin mit der bitteren Weisheit einer Polizistin, die in einer Zeitung eine rührselige Liebeskolumne schrieb, hatte Cherryl vor Wochen unter ihre Fittiche genommen, als die junge Frau erstmals in Presseinterviews durch den Fleischwolf gedreht wurde. Heute hatte sie die Reporter hinausgejagt, den Nachbarn mit den Worten „Schon gut, es reicht, verschwinden Sie!“ die Türe vor der Nase zugeschlagen und ihr beim Ankleiden geholfen. Sie würde Cherryl zur Hochzeit fahren; sie hatte bemerkt, dass sonst niemand da war, der das hätte übernehmen können.
Der Schleier, das weiße Satinkleid, die zierlichen Pantoffeln und die Perlenkette um ihren Hals hatten fünfhundert Mal so viel gekostet wie der gesamte Inhalt von Cherryls Zimmer. Darin nahm das Bett den meisten Platz ein, der Rest bestand aus einer Kommode, einem Stuhl und ihren wenigen Kleidern, die hinter einem ausgeblichenen Vorhang hingen. Der enorme Reifrock des Brautkleides berührte die Wände, wenn sie sich bewegte, als dramatischer Gegensatz wiegte sich ihre schlanke Figur oberhalb des Rockes in einer engen, schmucklosen Langarmkorsage. Das Kleid war von dem besten Modeschöpfer der Stadt entworfen worden.
„Wissen Sie, als ich den Job im Zehncentladen bekam, hätte ich in ein besseres Zimmer ziehen können“, sagte sie entschuldigend zu der Kolumnistin, „aber ich glaube, es kommt nicht darauf an, wo man in der Nacht schläft, deshalb habe ich mein Geld gespart, denn ich werde es in der Zukunft für etwas Großes brauchen …“ Sie hielt inne und lächelte, während sie verwirrt den Kopf schüttelte. „Ich dachte , ich würde es brauchen“, sagte sie.
„Du siehst gut aus“, sagte die Kolumnistin. „Man kann zwar in diesem angeblichen Spiegel nicht viel sehen, aber du siehst hübsch aus.“
„Wie das alles passiert ist, ich … ich hatte noch keine Zeit, es zu verarbeiten. Aber wissen Sie, Jim ist wundervoll. Es macht ihm nichts aus, dass ich nur eine Verkäuferin aus einem Zehncentladen bin, die in einem Zimmer wie diesem haust. Er hält es mir nicht vor.“
„M-hm“, sagte die Kolumnistin mit düsterem Gesicht.
Cherryl erinnerte sich an das wundersame erste Mal, als Jim Taggart hierher gekommen war. Er war eines Abends ohne Vorwarnung aufgetaucht, einen Monat nach ihrem ersten Treffen, als sie die Hoffnung, ihn jemals wiederzusehen, schon aufgegeben hatte. Es war ihr furchtbar peinlich gewesen, sie hatte sich gefühlt, als versuchte sie, einen Sonnenaufgang in einer Schlammpfütze festzuhalten. Doch Jim hatte gelächelt, während er auf ihrem einzigen Stuhl saß und ihr errötetes Gesicht und das Zimmer betrachtete. Dann hatte er ihr aufgetragen, ihren Mantel anzuziehen, und sie ins teuerste Restaurant in der Stadt zum Abendessen ausgeführt. Er hatte über ihre Unsicherheit, ihre Unbeholfenheit und ihre Angst, die falsche Gabel zu wählen, gelächelt und über den verzauberten Blick in ihren Augen. Sie hatte nicht gewusst, was er dachte. Er aber hatte bemerkt, dass sie überwältigt war – nicht von dem Restaurant, sondern von der Tatsache, dass er sie hierher geführt hatte –, dass sie die teuren Speisen kaum anrührte, dass sie das Abendessen nicht als eine Beute von einem reichen Kerl ansah – wie alle anderen Mädchen, die er kannte, es getan hätten –, sondern als eine glanzvolle Auszeichnung, auf die sie nie geglaubt hätte Anspruch zu haben.
Zwei Wochen später hatte er sie wieder besucht, und dann wurden ihre Treffen immer häufiger. Er fuhr zum Ladenschluss vor dem Zehncentladen vor, und sie sah, wie ihre Kolleginnen sie, seine Limousine und den livrierten Chauffeur, der ihr die Wagentür öffnete, anstarrten. Er führte sie in die besten Nachtclubs, und wenn er sie seinen Freunden vorstellte, sagte er: „Miss Brooks arbeitet im Zehncentladen am Madison Square.“ Sie sah den seltsamen Ausdruck in ihren Gesichtern und wie Jim sie mit einem Hauch von Spott in den Augen beobachtete. Er wollte ihr ersparen, sich verstellen zu müssen oder verlegen zu werden, dachte sie dankbar. Er war stark genug, um ehrlich zu sein und sich nicht darum zu kümmern, ob die anderen ihm zustimmten oder nicht, dachte sie voller Bewunderung. Doch sie spürte einen sonderbaren brennenden Schmerz, den sie bisher nicht gekannt hatte, als sie eines Abends hörte, wie eine Frau, die für ein anspruchsvolles politisches Magazin
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