Der Streik
es doch etwas gab, das sie Jim anbieten konnte: Diese Leute waren ebenso gemein und niedrig wie jene, vor denen sie in Buffalo geflüchtet war; er war genauso einsam, wie sie es immer gewesen war, und ihr aufrichtiges Gefühl war die einzige Anerkennung, die er je gefunden hatte.
Dann ging sie zurück in den Saal, mitten durch die Menge, und das Einzige, was von den Tränen geblieben war, die sie im Dunkel der Terrasse versucht hatte zurückzuhalten, war das kämpferische, helle Funkeln in ihren Augen. Wenn er offen zu ihr stehen wollte, obwohl sie nur eine einfache Verkäuferin war, wenn er sich mit ihr zeigen wollte, wenn er sie hierher gebracht hatte, um der Empörung seiner Freunde entgegenzutreten – dann war das die Geste eines mutigen Mannes, der sich über die Meinung anderer hinwegsetzte, und sie war bereit, sich seines Mutes würdig zu erweisen, indem sie bei dieser Gelegenheit als Vogelscheuche diente.
Dennoch war sie froh, als es vorbei war und sie im Wagen, der sie durch die Dunkelheit nach Hause fuhr, neben ihm saß. Sie empfand eine trostlose Art von Erleichterung. Ihr kämpferischer Trotz wich einem seltsam traurigen Gefühl, das sie zu verdrängen suchte. Jim sagte nur wenig. Er saß mürrisch da und starrte aus dem Fenster. Sie fragte sich, ob sie ihn auf irgendeine Weise enttäuscht hatte.
An der Schwelle ihrer Pension sagte sie bedrückt zu ihm: „Es tut mir leid, wenn ich dich enttäuscht habe …“
Er sagte einen Augenblick lang nichts, doch dann fragte er: „Was würdest du sagen, wenn ich dich bitten würde, mich zu heiraten?“
Sie sah ihn an, sie sah sich um. Eine schmutzige Matratze hing über einem Fensterbrett, auf der anderen Straßenseite befand sich eine Pfandleihe, ein Müllhaufen lag an der Schwelle neben ihnen. Man stellte diese Frage nicht an einem solchen Ort, sie konnte sich nicht erklären, was sie bedeutete, und antwortete: „Ich glaube, ich … ich habe keinen Sinn für Humor.“
„Das ist ein Antrag, meine Liebe.“
So kamen sie zu ihrem ersten Kuss – während die Tränen, die sie bei der Gesellschaft nicht vergossen hatte, nun über ihre Wangen hinabliefen, Tränen der Erschütterung, des Glücks. Dies musste das Glück sein, dachte sie, und eine leise, traurige Stimme sagte ihr, dass sie nicht gewollt hatte, dass es auf diese Weise geschah.
Sie hatte nicht an die Zeitungen gedacht, bis Jim ihr eines Tages sagte, sie solle zu seiner Wohnung kommen, und diese von Menschen mit Notizblöcken, Kameras und Blitzlichtern wimmelte, als sie ankam. Als sie zum ersten Mal ihr Bild in den Zeitungen sah – ein Bild von ihnen beiden, auf dem Jim seinen Arm um sie gelegt hatte –, kicherte sie voller Freude und fragte sich stolz, ob wohl jeder in der Stadt es gesehen hatte. Nach einer Weile verflog die Freude.
Immer wieder wurde sie am Ladentisch im Zehncentladen fotografiert, in der Untergrundbahn, auf der Schwelle ihrer Pension, in ihrem schäbigen Zimmer. Mittlerweile hätte sie auch Geld von Jim angenommen, um sich während der Wochen ihrer Verlobungszeit in irgendeinem düsteren Hotel zu verkriechen – aber er bot es ihr nicht an. Er schien zu wünschen, dass sie blieb, wo sie war. Sie druckten Fotografien von Jim an seinem Schreibtisch, in der Halle des Taggart Terminals, auf dem Trittbrett seines privaten Eisenbahnwaggons, bei einem eleganten Bankett in Washington. Die großformatigen Blätter der Tageszeitungen, die Artikel in den Zeitschriften, die Rundfunksendungen, die Wochenschau, all das war ein einziger endloser Schrei – über das „Aschenputtel“ und den „demokratischen Geschäftsmann“.
Wenn sie sich unbehaglich fühlte, befahl sie sich, nicht misstrauisch zu sein. Sie verpflichtete sich, nicht undankbar zu sein, wenn sie sich verletzt fühlte. Das war nur in einigen seltenen Augenblicken der Fall, wenn sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf erwachte, in der Stille ihres Zimmers lag und nicht mehr einschlafen konnte. Sie wusste, sie würde Jahre brauchen, um sich wieder zu erholen, um es zu glauben und zu verstehen. Sie taumelte durch ihre Tage wie jemand, der unter einem Sonnenstich leidet, und alles, was sie sah, war die Gestalt von Jim Taggart, wie sie ihn am Tag seines Triumphes zum ersten Mal gesehen hatte.
„Hör zu, Kind“, sagte die Kolumnistin zu ihr, als sie zum letzten Mal in ihrem Zimmer stand und der Schleier ihres Hochzeitskleides wie Kristallschaum von ihrem Haar auf die fleckigen Bretter des Fußbodens floss. „Du glaubst,
Weitere Kostenlose Bücher