Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
Vom Netzwerk:
er seine Augen richtete. Dann erlaubte er sich, Dagny anzublicken.
    Er betrachtete das graue Kleid, die fließende Bewegung des zarten Stoffes, wenn sie ging, die kurzen Unterbrechungen, die Schatten und das Licht. Für ihn war das Kleid wie ein blaugrauer Rauch, der vorübergehend die Form einer langen Kurve annahm, die schräg nach vorne bis zu ihren Knien und wieder zurück zu ihren Schuhspitzen verlief. Er kannte jede Facette, die das Licht formen würde, wenn die Rauchschwaden auseinanderrissen.
    Er spürte einen dumpfen, quälenden Schmerz: Es war Eifersucht auf jeden Mann, der mit ihr sprach. Er hatte sie noch nie zuvor verspürt; doch er verspürte sie hier, wo jeder das Recht hatte, sich ihr zu nähern, außer ihm.
    Dann, als verschöbe sich durch einen plötzlichen Schlag gegen seinen Kopf einen Augenblick lang seine Perspektive, fragte er sich erstaunt, was er hier tat und warum er hier war. Für diesen Augenblick vergaß er die vergangenen Zeiten und ihre Grundsätze; seine Vorstellungen, seine Probleme, sein Schmerz waren wie ausgelöscht; er erkannte nur – klar und deutlich, wie aus großer Entfernung –, dass ein Mensch für die Erfüllung seiner Wünsche existiert, und er fragte sich, warum er hier stand, er fragte sich, wer das Recht hatte, von ihm zu verlangen, dass er nur eine einzige unersetzbare Stunde seines Lebens vergeudete, wenn sein einziger Wunsch darin bestand, die Gestalt in Grau zu fassen und für alle Zeit, die ihm zu leben geblieben war, festzuhalten.
    Im nächsten Augenblick erlangte er mit einem Schaudern die Kontrolle über seinen Verstand zurück. Er fühlte, wie sich seine Lippen verächtlich fest zusammenpressten, anstatt die Worte auszusprechen, die er innerlich geformt hatte: Du bist einen Vertrag eingegangen, nun halte dich daran. Und dann dachte er plötzlich daran, dass die Gerichte bei Geschäften einen Vertrag, dem zufolge eine Partei der anderen keinen Gegenwert leistete, als ungültig erachteten. Er fragte sich, warum er jetzt daran dachte. Der Gedanke erschien ihm nicht von Bedeutung. Er verfolgte ihn nicht weiter.
    James Taggart sah, wie Lillian wie zufällig zu ihm herüberkam, genau in dem Moment, als er alleine in einer düsteren Ecke zwischen einer Topfpalme und dem Fenster stand. Er blieb stehen und wartete, bis sie ihn erreicht hatte. Er wusste nicht, was sie wollte, aber ihr Verhalten bedeutete nach dem Kodex, den er kannte, dass er sie besser anhören sollte.
    „Wie gefällt Ihnen mein Hochzeitsgeschenk, Jim?“, fragte sie und lachte, als er peinlich berührt dreinschaute. „Nein, nein, versuchen Sie nicht, die Liste mit den Gegenständen in Ihrer Wohnung durchzugehen und sich zu fragen, welcher davon es wohl war. Es ist nicht in Ihrer Wohnung, es ist hier, und es ist kein materielles Geschenk, mein Lieber.“
    Er bemerkte das angedeutete Lächeln in ihrem Gesicht, den Blick, der unter seinen Freunden als eine Einladung galt, an einem heimlichen Sieg teilzuhaben; ein Blick, der nicht bedeutete, jemanden durch Klugheit übertrumpft, sondern jemanden überlistet zu haben. Vorsichtig antwortete er mit verbindlichem, freundlichem Lächeln: „Ihre Anwesenheit ist das beste Geschenk, das Sie mir machen konnten.“
    „ Meine Anwesenheit, Jim?“
    Seine Gesichtszüge waren einen Augenblick lang starr vor Schreck. Er wusste, was sie meinte, hatte aber nicht erwartet, dass sie es so klar sagen würde.
    Sie lächelte offen. „Wir beide wissen, wessen Anwesenheit heute für Sie am wertvollsten ist – und am unerwartetsten. Wollten Sie mir dafür keine Anerkennung zollen? Ich muss mich über Sie wundern. Ich dachte, Sie hätten eine Begabung dafür, potenzielle Freunde zu erkennen.“
    Er wollte sich nicht festlegen; seine Stimme blieb vorsichtig und neutral. „Habe ich es versäumt, Ihre Freundschaft zu würdigen, Lillian?“
    „Nun kommen Sie schon, mein Lieber, Sie wissen genau, was ich meine. Sie hatten nicht erwartet, dass er heute kommt, weil Sie nicht angenommen hatten, dass er Angst vor Ihnen hat, nicht wahr? Aber dass die anderen das denken – das ist ein unschätzbarer Vorteil, oder?“
    „Ich bin … überrascht, Lillian.“
    „Sollten Sie nicht sagen ‚beeindruckt‘? Ihre Gäste sind ziemlich beeindruckt. Ich kann sie praktisch überall im Saal denken hören. Die meisten von ihnen denken: ‚Wenn er sich mit James Taggart gutstellen muss, sollten wir lieber mitziehen.‘ Und einige wenige denken: ‚Wenn er Angst hat, können wir uns viel mehr

Weitere Kostenlose Bücher