Der Streik
ein grünblaues Funkeln, das ihre Aufmerksamkeit auf sich zog: Es blitzte einen Augenblick lang unter den Lichtern des Saals am Handgelenk eines nackten schlanken Armes auf. Erst dann sah sie den schmalen Körper, das graue Kleid, die unbedeckten zarten Schultern. Sie blieb stehen. Mit gerunzelter Stirn sah sie auf das Armband.
Als sie sich näherte, drehte Dagny sich zu ihr um. Unter den vielen Dingen, die Lillian ärgerten, war die unpersönliche Höflichkeit in Dagnys Gesicht das, worüber sie sich am meisten ärgerte.
„Was halten Sie von der Heirat Ihres Bruders, Miss Taggart?“, fragte sie unbeschwert und lächelte.
„Ich habe dazu keine Meinung.“
„Wollen Sie damit sagen, dass Sie sie keines Gedankens würdig befinden?“
„Wenn Sie es genau wissen wollen – ja, das meine ich.“
„Oh, aber sehen Sie denn keine menschliche Bedeutung darin?“
„Nein.“
„Denken Sie nicht, dass eine Person wie die Braut Ihres Bruders etwas Interesse verdient hätte?“
„Eigentlich nicht.“
„Ich beneide Sie, Miss Taggart. Ich beneide Ihre erhabene Distanz. Sie ist, glaube ich, Ihr Geheimnis, warum andere Sterbliche niemals hoffen dürfen, Ihnen im Bereich des geschäftlichen Erfolgs gleichzukommen. Andere lassen es zu, dass ihre Aufmerksamkeit geteilt wird – zumindest so weit, dass sie Leistungen in anderen Bereichen anerkennen.“
„Über welche Leistungen sprechen Sie?“
„Zollen Sie den Frauen, die nicht im geschäftlichen, sondern im menschlichen Bereich außergewöhnliche Eroberungen gemacht haben, denn überhaupt keine Anerkennung?“
„Ich glaube nicht, dass es im menschlichen Bereich einen Begriff wie ‚Eroberung‘ gibt.“
„Oh doch, denken Sie zum Beispiel nur daran, wie hart andere Frauen hätten arbeiten müssen, wenn Arbeit für sie das einzige Mittel gewesen wäre zu erreichen, was dieses Mädchen durch die Person Ihres Bruders erreicht hat.“
„Ich glaube nicht, dass sie tatsächlich verstanden hat, was sie erreicht hat.“
Rearden sah sie zusammenstehen. Er ging auf sie zu. Er hatte das Gefühl, ihr Gespräch hören zu müssen, ganz gleich, welche Folgen das haben würde. Schweigend blieb er neben ihnen stehen. Er wusste nicht, ob Lillian sich seiner Anwesenheit bewusst war; er wusste, dass Dagny es war.
„Zeigen Sie sich ihr gegenüber doch etwas großzügig, Miss Taggart“, sagte Lillian. „Schenken Sie ihr doch zumindest Ihre Aufmerksamkeit. Sie dürfen Frauen, die nicht Ihr hervorragendes Talent besitzen und ihren eigenen speziellen Begabungen folgen, nicht verachten. Die Natur verteilt ihre Geschenke gleichmäßig und bietet immer einen Ausgleich – glauben Sie nicht?“
„Ich bin nicht sicher, ob ich Sie verstehe.“
„Oh, ich bin sicher, Sie möchten nicht, dass ich ausführlicher werde!“
„Doch, das möchte ich.“
Lillian zuckte ärgerlich mit den Schultern; ihre Freundinnen hätten sie schon lange verstanden und unterbrochen, aber dies war ein Gegner, der ihr neu war – eine Frau, die sich nicht verletzen ließ. Sie wollte nicht deutlicher werden, aber sie bemerkte, wie Rearden sie ansah. Sie lächelte und sagte: „Nun, nehmen Sie Ihre Schwägerin, Miss Taggart. Welche Chancen hatte sie, in der Welt aufzusteigen? Gar keine – wenn es nach Ihren strengen Maßstäben ginge. Sie hätte keine erfolgreiche Geschäftskarriere machen können. Sie besitzt nicht Ihren außergewöhnlichen Verstand. Außerdem hätten die Männer es ihr unmöglich gemacht. Sie hätten sie zu attraktiv gefunden. Daher hat sie es sich zunutze gemacht, dass Männer Maßstäbe haben, die zum Glück nicht so hoch sind wie Ihre. Sie machte Gebrauch von Talenten, die Sie sicherlich verabscheuen. Sie haben sich nie dazu herabgelassen, sich mit uns unbedeutenden Frauen in dem einzigen Bereich unseres Ehrgeizes zu messen – dem Erlangen von Macht über Männer.“
„Wenn Sie das Macht nennen, Mrs. Rearden – dann nein, das habe ich nicht.“
Sie wandte sich zum Gehen, aber Lillians Stimme hielt sie zurück: „Ich würde ja gerne glauben, dass Sie durch und durch konsequent sind, Miss Taggart, und frei von jeglicher menschlichen Schwäche. Ich würde gerne glauben, dass Sie nie das Bedürfnis verspürt haben, jemandem zu schmeicheln – oder jemanden zu beleidigen. Aber wie ich sehe, haben Sie sowohl mich als auch Henry heute Abend hier erwartet.“
„Nein, eigentlich nicht. Ich kannte die Gästeliste meines Bruders nicht.“
„Warum tragen Sie dann dieses
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