Der Streik
tuschelten untereinander und blickten schuldbewusst und ängstlich drein, als stünde ihnen eine namenlose Vergeltung bevor; wiederum andere verhielten sich hysterisch abwehrend und versuchten, so zu tun, als wäre nichts geschehen.
Wie Marionetten an verhedderten Fäden brüllten die Zeitungen mit der gleichen Aggressivität an denselben Tagen: „Es ist Sozialverrat, der Fahnenflucht Hank Reardens zu viel Gewicht beizumessen und die öffentliche Moral durch die altmodische Ansicht zu unterwandern, ein Einzelner könne für die Gesellschaft in irgendeiner Weise von Belang sein.“ „Es ist Sozialverrat, Gerüchte über ein Verschwinden Hank Reardens zu verbreiten. Rearden ist keineswegs verschwunden, sondern hält sich in seinem Büro auf und betreibt wie gewohnt sein Stahlwerk. Abgesehen von einem unbedeutenden Zwischenfall – einer privaten Auseinandersetzung zwischen einigen Arbeitern – hat es bei Rearden Steel keinerlei Probleme gegeben.“ „Es ist Sozialverrat, ein unpatriotisches Licht auf das tragische Dahinscheiden Hank Reardens zu werfen. Rearden hat keineswegs Fahnenflucht begangen, sondern ist auf dem Weg zur Arbeit bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, und seine trauernde Anverwandten haben auf einer Bestattung im Familienkreis bestanden.“
Sie empfand es als befremdlich, Nachrichten nur aus Dementis erschließen zu können, als hätte alles aufgehört zu existieren, als hätten Tatsachen sich in Luft aufgelöst und als wäre die Wirklichkeit nur an den nervösen Negierungen der Behörden und Kolumnisten abzulesen. „Es ist nicht wahr, dass die Miller Steel Foundry in New Jersey Konkurs angemeldet hat.“ „Es ist nicht wahr, dass die Jansen Motor Company in Michigan ihre Pforten geschlossen hat.“ „Es ist eine bösartige und unsoziale Lüge, dass die Hersteller von Stahlprodukten sich infolge einer drohenden Stahlknappheit nicht mehr halten könnten. Es gibt keinen Anlass, eine Stahlknappheit zu befürchten.“ „Das verleumderische Gerücht, ein Stahlvereinigungsplan sei vorgesehen gewesen und von Orren Boyle befürwortet worden, entbehrt jeder Grundlage. Boyles Rechtsanwalt hat ein energisches Dementi veröffentlicht und der Presse gegenüber versichert, dass Boyle jetzt jeden solchen Plan strikt ablehnt. Boyle selbst ist aufgrund eines Nervenzusammenbruchs derzeit indisponiert.“
Andere Ereignisse lagen hingegen im trüben, kalten Zwielicht der Herbstabende auf den Straßen New Yorks offen zutage: Vor einem Eisenwarenladen hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Der Besitzer hatte die Türen aufgelassen, damit man sich ungehindert am letzten Rest seines dürftigen Inventars bedienen konnte, während er selbst lachend, kreischend und schluchzend seine eigenen Schaufenster einschlug. Auch am Eingang eines heruntergekommenen Wohngebäudes hatte sich eine Menschentraube gebildet. Davor wartete ein Krankenwagen der Polizei auf die Leichen eines Ehepaars und seiner drei Kinder, die eben aus einem Zimmer voller Gas getragen wurden. Der Mann war ein mittelständischer Eisengusswarenhersteller gewesen.
Wenn sie den Wert Hank Reardens jetzt erkennen, dachte sie, warum haben sie ihn nicht früher erkannt? Weshalb hatten sie nicht ihren eigenen Untergang abgewendet und ihm Jahre undankbarer Schikanen erspart? Sie fand keine Antwort.
In der Stille ihrer schlaflosen Nächte dachte sie darüber nach, dass Hank Rearden und sie jetzt ihre Plätze vertauscht hatten: Er befand sich in Atlantis, während sie durch einen Lichtschirm ausgesperrt war. Möglicherweise rief er nach ihr, wie sie seinerzeit nach seinem umherirrenden Flugzeug gerufen hatte, aber der Schirm blieb für jedes Zeichen undurchdringlich.
Und doch öffnete er sich einmal ein wenig – weit genug, um einen Brief passieren zu lassen, den sie eine Woche nach seinem Verschwinden erhielt. Der Umschlag trug keine Absenderanschrift, nur den Poststempel eines Dörfchens in Colorado. In dem Brief standen zwei Sätze:
Ich bin ihm begegnet. Ich nehme es dir nicht übel.
H. R.
Sie saß lange Zeit reglos da und schaute den Brief an, als wäre sie nicht in der Lage, sich zu rühren oder etwas zu empfinden. Sie fühlte nichts, dachte sie, doch dann wurde ihr bewusst, dass ihre Schultern leise, aber unaufhörlich bebten, und sie begriff, dass die gewaltige Spannung in ihrem Inneren aus überschwänglicher Anerkennung, Dankbarkeit und Verzweiflung rührte: ihrer Anerkennung des Sieges, den die Begegnung dieser beiden Männer darstellte,
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