Der Streik
denn beide hatten damit ihren endgültigen Triumph errungen; ihrer Dankbarkeit dafür, dass die Bewohner von Atlantis sie noch als ihresgleichen anerkannten und ihr ausnahmsweise eine Botschaft hatten zukommen lassen; ihrer Verzweiflung angesichts der Erkenntnis, dass ihre innere Leere auf ihr Bemühen zurückzuführen war, ihre Ohren vor den Fragen zu verschließen, die sich ihr jetzt unausweichlich stellten. Hatte Galt sie verlassen? War er um seiner größten Eroberung willen ins Tal zurückgekehrt? Würde er wiederkommen? Hatte er sie aufgegeben? Diese Fragen waren ihr nicht deshalb unerträglich, weil es keine Antwort darauf gab, sondern weil die Antwort zum Greifen nahe war, sie aber kein Recht hatte, die Hand danach auszustrecken.
Sie hatte keinen Versuch unternommen, ihn zu treffen. Einen ganzen Monat lang war sie sich jeden Morgen beim Betreten ihres Büros nicht etwa des Raums bewusst gewesen, in dem sie sich befand, sondern der Tunnel, die sich unter dem Gebäude ausbreiteten – und sie hatte gearbeitet, als würde ein Nebenbereich ihres Gehirns in lebloser Betriebsamkeit Zahlen ausrechnen, Berichte lesen und Entscheidungen treffen, während ihr Verstand untätig und ruhig in sich versunken blieb und sich nicht über den Satz hinauswagen durfte: Er ist dort unten. Die einzige Nachforschung, die sie sich anzustellen erlaubt hatte, war ein Blick auf die Gehaltslisten der Arbeiter im Terminal. Sie hatte den Namen entdeckt: Galt, John. Seit über zwölf Jahren hatte er unverblümt dort gestanden. Ihr Blick war auf eine Anschrift gefallen, die neben dem Namen stand – und einen Monat lang hatte sie sich bemüht, sie zu vergessen.
Es war ihr schwer gefallen, jenen Monat durchzustehen – doch jetzt, da der Brief vor ihr lag, war für sie der Gedanke, Galt könnte gegangen sein, noch schwerer zu ertragen. Selbst der Kampf gegen die Versuchung, sich ihm zu nähern, war eine Verbindung zu ihm gewesen, ein zu bezahlender Preis, ein in seinem Namen errungener Sieg. Doch jetzt gab es nichts außer einer Frage, die nicht gestellt werden durfte. Seine Anwesenheit in den Tunneln war in jenen Tagen ihr Antrieb gewesen – wie es während der Sommermonate seine Anwesenheit in der Stadt gewesen war, wie es in den Jahren, ehe sie seinen Namen gehört hatte, seine Anwesenheit in der Welt gewesen war. Nun war gleichsam auch ihr Motor zum Stillstand gekommen.
Sie machte weiter, mit dem hellen, klaren Glanz des Fünfdollargoldstücks in ihrer Tasche als letztem Tropfen Treibstoff. Sie machte weiter, von der Außenwelt durch einen letzten Panzer abgeschirmt: Gleichgültigkeit.
Die Zeitungen verschwiegen die Gewalt, die landesweit ausbrach, aber sie verfolgte sie anhand der Berichte der Zugführer über zerschossene Wagen, demontierte Gleise, angegriffene Züge und belagerte Bahnhöfe in Nebraska, Oregon, Texas und Montana – es waren zwecklose, zum Scheitern verurteilte Ausbrüche, die von bloßer Verzweiflung herrührten und in bloßer Verwüstung endeten. Einige beschränkten sich auf Überfälle regionaler Banden, andere griffen weiter um sich. Es gab Bezirke, die sich in blindem Aufruhr erhoben, die örtlichen Beamten verhafteten, die Abgesandten aus Washington auswiesen, die Steuereintreiber umbrachten, dann ihre Unabhängigkeit erklärten und genau jenes Übel auf die Spitze trieben, das sie zerstört hatte, als ließe sich Mord durch Selbstmord abwenden: Sie beschlagnahmten das gesamte Privateigentum, dessen sie habhaft werden konnten, riefen eine allgemeine und umfassende Solidaritätspflicht aus und gingen binnen einer Woche endgültig zugrunde, nachdem sie ihre magere Beute verzehrt hatten – im barbarischen Hass eines jeden gegen jeden, im Chaos der Gesetzlosigkeit, in dem allein die Waffengewalt zählte, und der lethargische Vorstoß einiger weniger abgekämpfter Soldaten, die aus Washington entsandt wurden, um in den Ruinen für Ordnung zu sorgen, machte ihnen den Garaus.
Kein Wort davon war in den Zeitungen zu lesen. Die Leitartikel handelten weiterhin von Selbstverleugnung als Pfad zu künftigem Fortschritt, von Aufopferung als moralischem Imperativ, von Habgier als dem Feind und von Liebe als Lösung – und ihre fadenscheinigen Argumente waren so süßlich wie der Geruch von Äther in einem Siechenhaus.
Hinter vorgehaltener Hand verbreiteten sich zwar im ganzen Land Gerüchte über zynische Gewaltherrschaft – doch man las die Zeitungen, tat, als glaubte man das Gelesene, wetteiferte mit den anderen,
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