Der Streik
entfernte Turmuhr: Es war zehn Uhr. Sie hatte bis vier Uhr früh im Büro gearbeitet und den Hinweis hinterlassen, dass sie nicht vor Mittag wieder erscheinen würde.
Das bleiche, von Panik entstellte Gesicht, das sie vor sich sah, als sie die Tür aufriss, war das von James Taggart.
„Er ist weg!“, rief er.
„Wer?“
„Hank Rearden! Er ist abgehauen, weggegangen, verschwunden, auf und davon!“
Sie stand einen Augenblick lang regungslos da, den Gürtel ihres Morgenrocks, den sie gerade hatte zubinden wollen, noch in der Hand; sobald sie ganz begriffen hatte, was geschehen war, zog sie den Gürtel ruckartig fest, als wollte sie ihren Körper in der Mitte zweiteilen, und lachte auf. Ihr Lachen klang triumphierend.
Er starrte sie entgeistert an. „Was ist denn mit dir los?“, keuchte er. „Hast du mich nicht verstanden?“
„Komm rein, Jim“, sagte sie, drehte sich verächtlich um und ging ins Wohnzimmer. „Oh doch, ich habe verstanden.“
„Er ist weggegangen! Weg! Weg, wie all die anderen! Er hat sein Stahlwerk zurückgelassen, seine Konten, sein Haus, alles! Einfach verschwunden! Nur ein paar Kleidungsstücke hat er mitgenommen und den Inhalt des Tresors in seiner Wohnung – man hat einen offenen Tresor in seinem Schlafzimmer gefunden, offen und leer –, sonst nichts! Kein Wort, keine Notiz, keine Erklärung! Man hat mich aus Washington angerufen, aber die ganze Stadt weiß davon! Die Nachricht, ich meine, der Skandal! So etwas lässt sich nicht geheim halten! Sie haben es versucht, aber … Niemand weiß, wie sie in Umlauf gekommen ist, aber sie hat sich im Stahlwerk verbreitet wie eine dieser Hochofenexplosionen, die Meldung, dass er weg war, und dann … ehe man sie hätte aufhalten können, verschwand eine ganze Reihe anderer. Der Werkleiter, der Chefmetallurg, der Chefingenieur, Reardens Sekretärin, sogar der Firmenarzt! Und weiß Gott, wie viele andere! Sie sind fahnenflüchtig, diese Mistkerle! Sie lassen uns im Stich, trotz all der Vertragsstrafen, die wir vorgesehen haben! Er ist abgehauen, die anderen hauen ab, und das Stahlwerk ist geblieben und steht einfach still! Verstehst du, was das bedeutet?“
„Verstehst du es?“, fragte sie.
Satz für Satz hatte er ihr die Neuigkeit entgegengeschleudert, als wollte er damit das Lächeln aus ihrem Gesicht schlagen, ein merkwürdiges, unbewegtes Lächeln voll Bitterkeit und Triumph, aber das war ihm nicht gelungen. „Es ist eine nationale Katastrophe! Was ist denn mit dir los? Begreifst du nicht, dass das ein Todesstoß ist? Es wird dem Gemeinschaftsgeist und der Wirtschaft des Landes vollends den Garaus machen! Wir dürfen ihn nicht gehen lassen! Du musst ihn zurückholen!“
Ihr Lächeln verschwand.
„Du kannst es!“, schrie er. „Du bist die Einzige, die es kann! Er ist doch dein Liebhaber, oder etwa nicht? … Ach, schau mich nicht so an! Jetzt ist keine Zeit für Empfindlichkeiten! Für nichts ist Zeit, außer dafür, dass wir seiner habhaft werden müssen! Du musst doch wissen, wo er ist! Du kannst ihn finden! Du musst ihn erreichen und zurückholen!“
Die Art und Weise, wie sie ihn jetzt ansah, war schlimmer als ihr Lächeln – sie blickte ihn an, als sähe sie ihn nackt und könnte den Anblick nicht länger ertragen. „Ich kann ihn nicht zurückholen“, sagte sie, ohne die Stimme zu erheben. „Und selbst wenn ich es könnte, würde ich es nicht tun. Und jetzt raus hier.“
„Aber die nationale Katastrophe …“
„Raus.“
Sie bemerkte sein Weggehen nicht. Sie stand alleine mitten in ihrem Wohnzimmer, mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern, und sie lächelte, ein Lächeln voll Schmerz und Zärtlichkeit, ein Gruß an Hank Rearden. Sie fragte sich undeutlich, weshalb sie so glücklich darüber sein konnte, dass er sich befreit hatte, warum sie so sicher war, dass er damit den richtigen Schritt getan hatte, obwohl sie sich selbst diese Erlösung verwehrte. Zwei Sätze hämmerten in ihrem Kopf. Der eine triumphierte: Er ist frei; er ist ihnen entkommen! Der andere glich einem feierlichen Gelöbnis: Noch ist ein Sieg möglich, aber außer mir soll es keine Opfer geben …
Es war seltsam, dachte sie in den darauffolgenden Tagen beim Anblick der Menschen in ihrer Umgebung, dass die Katastrophe ihre Aufmerksamkeit stärker auf Hank Rearden lenkte, als seine Leistungen es getan hatten, als wäre ihr Bewusstsein für Verhängnisvolles zugänglich, aber nicht für Wertvolles. Manche verfluchten ihn lauthals; andere
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