Der Streik
ist wenig Zeit für eine Konferenz zu einem nationalen Notstand, oder?“
„Mr. Thompson ist ein viel beschäftigter Mann. Also bitte, keine Widerrede! Mach es nicht so kompliziert, ich verstehe nicht, weshalb du …“
„Also gut“, sagte sie gleichgültig. „Ich werde kommen“, und da sie nicht ohne einen Zeugen an einer Konferenz von Schurken teilnehmen wollte, fügte sie hinzu: „Aber Eddie Willers wird mich begleiten.“
Er runzelte die Stirn und dachte einen Augenblick lang nach, wobei er eher verärgert wirkte als besorgt. „Meinetwegen, wenn du unbedingt willst“, erwiderte er dann barsch und zuckte mit den Schultern.
Als sie das Rundfunkbüro betrat, wurde sie flankiert von James Taggart als Ordnungshüter auf der einen und Eddie Willers als Leibwächter auf der anderen Seite. Taggart machte ein gereiztes und angespanntes Gesicht, Eddie blickte verzagt, doch verwundert und neugierig drein. In einem Winkel des großen, schwach beleuchteten Raums waren Pappwände aufgestellt worden, welche die steife, traditionelle Atmosphäre einer Mischung aus stattlichem Empfangszimmer und bescheidenem Studierzimmer schufen. Davor standen, wie auf einem Gruppenfoto aus einem Familienalbum, einige Sessel im Halbkreis. Ringsum baumelten Mikrofone von langen Stangen herab wie Köder an Angelschnüren.
Die führenden Köpfe des Landes standen in nervösen Grüppchen beieinander und sahen aus wie Restposten nach einem Räumungsverkauf: Dagny sah Wesley Mouch, Eugene Lawson, Chick Morrison, Tinky Holloway, Dr. Floyd Ferris, Dr. Simon Pritchett, Ma Chalmers, Fred Kinnan sowie eine Handvoll zwielichtiger Geschäftsleute, unter ihnen auch der halb verängstigte, halb geschmeichelte Mr. Mowen von der Amalgamated Switch and Signal Company, der – sie traute kaum ihren Augen – einen Industriemagnaten darstellen sollte.
Am meisten erschrak sie jedoch beim Anblick von Dr. Robert Stadler. Sie hatte nicht gewusst, dass ein Gesicht binnen eines Jahres derart altern konnte: Der ewig vitale, jungenhaft ehrgeizige Gesichtsausdruck war verschwunden, und geblieben waren nur die von verächtlicher Bitterkeit gezogenen Furchen. Er stand alleine, abseits der anderen, und sie bemerkte seinen Blick, als er sie eintreten sah. Er glich dem eines Mannes in einem Bordell, der sich in seine Umgebung eingefunden hat, bis seine Frau ihn plötzlich dort erwischt: ein schuldbewusster Blick, der allmählich in Hass umschlug. Dann sah sie, wie er, Robert Stadler, der Wissenschaftler, sich abwandte, als hätte er sie nicht gesehen – als könne er eine Tatsache durch bloßes Wegschauen auslöschen.
Mr. Thompson lief zwischen den Grüppchen hin und her und fauchte die Umstehenden beliebig an, wie ein rastloser Mann der Tat, dem das Halten von Reden eine lästige Pflicht ist. Er umklammerte ein Bündel von mit Schreibmaschine beschriebenen Blättern, als handelte es sich um abgetragene Kleidung, die er ablegen wollte.
James Taggart fing ihn ab und sagte unsicher und laut: „Mr. Thompson, darf ich Ihnen meine Schwester vorstellen, Miss Dagny Taggart?“
„Ich freue mich sehr darüber, dass Sie gekommen sind, Miss Taggart“, sagte Thompson, während er ihre Hand schüttelte, als wäre sie eine Wählerin aus seiner Heimatprovinz, deren Namen er nie zuvor gehört hatte. Dann marschierte er eilig davon.
„Was ist mit der Konferenz, Jim?“, fragte sie und blickte auf die Wanduhr mit ihrem großen weißen Zifferblatt und dem schwarzen Zeiger, der wie ein Messer die Minuten abschnitt, die noch bis acht Uhr verblieben.
„Ich kann nichts dafür! Es ist nicht meine Veranstaltung!“, fuhr er sie an.
Eddie Willers schenkte ihr einen Blick voll bitteren, geduldigen Erstaunens und trat näher an sie heran.
Aus einem Radio war Marschmusik zu hören, die aus einem anderen Studio gesendet wurde. Sie übertönte nahezu die nervösen Gesprächsfetzen, die hastigen, ziellosen Schritte und die kreischenden Gerätschaften, die auf das Bühnenbild ausgerichtet wurden.
„Bleiben Sie dran, und hören Sie um 20 Uhr Mr. Thompsons Bericht zur globalen Krise!“, polterte der Radiosprecher mit kämpferischer Stimme, als eben der Minutenzeiger auf 19 Uhr 45 vorrückte.
„Macht Tempo, Jungs, macht Tempo!“, trieb Thompson seine Leute an, während ein weiterer Marsch aus dem Radio blies.
Um 19 Uhr 50 rief der Gemeinschaftsgeistbeauftragte Chick Morrison, der offenbar die Leitung innehatte: „Also gut, meine Damen und Herren, nehmen Sie bitte Ihre Plätze
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