Der Streik
gleichbedeutend ist mit Opferbereitschaft, habt ihr nach jeder neuen Katastrophe noch größere Opfer verlangt. Im Namen einer Rückkehr zur Moral habt ihr all die Übel geopfert, die ihr für die Wurzel eurer Misere hieltet. Ihr habt die Gerechtigkeit der Barmherzigkeit geopfert. Ihr habt die Unabhängigkeit der Einigkeit geopfert. Ihr habt die Vernunft dem Glauben geopfert. Ihr habt den Wohlstand dem Mangel geopfert. Ihr habt die Selbstachtung der Selbstverleugnung geopfert. Ihr habt das Glück der Pflicht geopfert.
Ihr habt alles zerstört, was ihr für böse, und alles erreicht, was ihr für gut hieltet. Weshalb schreckt ihr also voll Grauen vor dem Anblick der Welt, die euch umgibt, zurück? Diese Welt ist nicht etwa das Produkt eurer Sünden, sondern das Produkt und Spiegelbild eurer Tugenden. Sie ist die Verwirklichung und Vollendung eures moralischen Ideals. Ihr habt dafür gekämpft, davon geträumt, sie herbeigesehnt, und ich – ich bin der Mensch, der euch euren Wunsch erfüllt hat.
Es gab einen unversöhnlichen Gegner eures Ideals, den zu vernichten euer Moralkodex ersonnen wurde. Ich habe diesen Gegner aus dem Verkehr gezogen. Ich habe ihn euch aus dem Weg geräumt und eurem Zugriff entzogen. Ich habe die Quelle all jener Übel, die ihr nach und nach geopfert habt, entfernt. Ich habe euren Kampf zu Ende geführt. Ich habe euren Motor zum Stillstand gebracht. Ich habe eurer Welt den menschlichen Verstand entzogen.
Die Menschen leben nicht nach dem Verstand, meint ihr? Ich habe diejenigen aus dem Verkehr gezogen, die es doch tun. Der Verstand ist ohnmächtig, meint ihr? Ich habe diejenigen aus dem Verkehr gezogen, deren Verstand es nicht ist. Es gibt höhere Werte als den des Verstandes, meint ihr? Ich habe diejenigen aus dem Verkehr gezogen, für die es sie nicht gibt.
Während ihr dabei wart, alle Gerechten, Unabhängigen, Vernünftigen, Wohlhabenden und Selbstbewussten auf eurem Altar zu opfern, bin ich euch zuvorgekommen; ich habe sie als Erster erreicht. Ich habe sie über euer Spiel und euren Moralkodex aufgeklärt, dessen Wesen zu begreifen sie zu unschuldig und großzügig waren. Ich habe ihnen gezeigt, wie sie nach einer anderen Moral leben können: meiner. Und sie haben sich für meine entschieden.
All jene, die verschwunden sind, jene, die ihr zwar gehasst, die zu verlieren ihr aber gefürchtet habt – ich war es, der sie euch entzogen hat. Versucht nicht, uns zu finden. Wir sind nicht gewillt, uns finden zu lassen. Klagt nicht, es sei unsere Pflicht, euch zu dienen. Wir erkennen eine solche Pflicht nicht an. Klagt nicht, ihr bräuchtet uns. Uns gilt ein Bedürfnis nicht als Anspruch. Klagt nicht, wir gehörten euch. Wir gehören euch nicht. Bittet uns nicht zurückzukehren. Wir sind im Streik, wir, die Verstandesmenschen.
Wir streiken gegen Selbstaufopferung. Wir streiken gegen den Glauben an unverdiente Belohnungen und unbelohnte Pflichten. Wir streiken gegen das Dogma, das Streben nach eigenem Glück sei böse. Wir streiken gegen die Doktrin, das Leben sei schuldhaft.
Unser Streik unterscheidet sich von dem, den ihr seit Jahrhunderten praktiziert: Wir streiken nicht, um Forderungen durchzusetzen, sondern um sie zu erfüllen. Eure Moral erklärt uns für böse. Wir haben beschlossen, euch nicht mehr zu schaden. Eure Wirtschaftslehre erklärt uns für nutzlos. Wir haben beschlossen, euch nicht mehr auszunutzen. Eure Politik erklärt uns für gefährlich und verlangt, dass man uns Fesseln anlege. Wir haben beschlossen, euch nicht mehr zu gefährden, aber auch die Fesseln nicht mehr zu dulden. Eure Philosophie erklärt uns zu einem bloßen Trugbild. Wir haben beschlossen, euch nicht mehr zu täuschen, sondern euch der Wirklichkeit ins Angesicht sehen zu lassen – der Wirklichkeit, die ihr wolltet, der Welt in ihrem jetzigen Zustand, einer Welt ohne Verstand.
Wir haben euch alles gewährt, was ihr von uns verlangt habt, wir, die wir seit jeher die Gebenden waren, uns aber erst jetzt dessen bewusst geworden sind. Wir haben keine Forderungen, die wir an euch richten, keine Bedingungen, über die wir mit euch verhandeln, keinen Kompromiss, den wir mit euch schließen könnten. Ihr habt uns nichts zu bieten. Wir brauchen euch nicht.
Werdet ihr jetzt klagen: Nein, das wolltet ihr nicht? Eine Welt in Schutt und Asche, ohne Verstand, sei nicht euer Ziel gewesen? Ihr hättet nicht gewollt, dass wir euch verlassen? Ich weiß, dass ihr schon immer wusstet, was ihr wolltet, ihr moralischen
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