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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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konnte, die Welt erobern. Sie lächelte, ohne überrascht zu sein. Es gab Augenblicke, in denen sie plötzlich ein heftiges Verlangen nach ihm empfand, aber es war nur Ungeduld, kein Schmerz. Sie verdrängte es in dem sicheren Wissen, dass sie beide einer Zukunft entgegenarbeiteten, die ihnen alles bringen würde, was sie wollten, nicht zuletzt einander. Dann kamen keine Briefe mehr.
    Sie war vierundzwanzig, als an einem Frühlingstag das Telefon auf ihrem Schreibtisch in einem Büro des Taggart Buildings läutete. „Dagny“, sagte eine Stimme, die sie sofort erkannte, „ich bin im Wayne-Falkland. Komm heute zum Abendessen zu mir. Um sieben.“ Er sprach, ohne sie zu begrüßen, als hätten sie sich erst am Tag vorher verabschiedet. Dass sie einen Augenblick brauchte, um sich zu erinnern, wie man atmete, machte ihr zum ersten Mal klar, wie viel ihr diese Stimme bedeutete. „In Ordnung … Francisco“, antwortete sie. Sie mussten nichts weiter sagen. Diese Rückkehr war ganz normal und ganz so, wie sie es immer erwartet hatte, dachte sie, als sie den Hörer auflegte, außer dass sie nicht mit dem plötzlichen Bedürfnis, seinen Namen auszusprechen, gerechnet hatte oder mit dem Glücksgefühl, das es ihr versetzte, ihn auszusprechen.
    Als sie an diesem Abend sein Hotelzimmer betrat, blieb sie abrupt stehen. Er stand in der Mitte des Raumes und sah sie an – und sie erblickte ein Lächeln, das langsam, wie ungewollt auftauchte, als hätte er die Fähigkeit zu lächeln verloren gehabt und wunderte sich nun darüber, dass er sie wiederfand. Er sah sie ungläubig an, konnte nicht recht fassen, was sie war oder was er fühlte. Sein Blick war wie eine Bitte, wie der Hilferuf eines Mannes, der nicht weinen konnte. Als sie den Raum betrat, hatte er sie bei ihrem alten Namen rufen wollen und begonnen: „Hallo …“, aber er sprach nicht zu Ende. Stattdessen sagte er nach einem Augenblick: „Du bist wunderschön, Dagny.“ Er sagte es, als schmerzten ihn die Worte.
    „Francisco, ich …“
    Er schüttelte den Kopf, damit sie die Worte nicht aussprach, die sie einander nie gesagt hatten – dennoch wussten sie, dass sie sie in diesem Augenblick beide gesagt und gehört hatten.
    Er ging auf sie zu, nahm sie in den Arm, küsste sie auf den Mund und hielt sie lange fest. Als sie den Kopf hob und in sein Gesicht blickte, lächelte er siegessicher und ein wenig spöttisch zu ihr herab. Sein Lächeln verriet ihr, dass er sich selbst, sie und alles andere unter Kontrolle hatte und ihr befahl, alles zu vergessen, was sie in diesem ersten Augenblick gesehen hatte. „Hallo, Slug“, sagte er.
    Alles, was sie in diesem Augenblick sicher wusste, war, dass sie keine Fragen stellen durfte, so lächelte sie und sagte: „Hallo, Frisco.“
    Sie hätte jede Veränderung an ihm besser verstehen können als das, was sie sah. In seinem Gesicht gab es keinen Funken Leben, keine Spur von Vergnügen. Das Gesicht war hart geworden. Das Bittende seines ersten Lächelns war kein Bitten aus Schwäche gewesen. Sein Auftreten hatte eine Entschlossenheit angenommen, die unbarmherzig schien. Er benahm sich wie ein Mann, der unter der unerträglichen Last einer Bürde aufrecht stand. Sie sah, was sie niemals für möglich gehalten hätte: In seinem Gesicht waren Züge der Bitterkeit, und er sah gequält aus.
    „Dagny, sei nicht verwundert über die Dinge, die ich tue“, sagte er, „noch über irgendetwas, das ich jemals in der Zukunft tun werde.“
    Das war die einzige Erklärung, die er ihr zugestand, dann ging er dazu über, so zu tun, als gäbe es nichts zu erklären.
    Sie fühlte lediglich eine leichte Sorge, es war unmöglich, sich in seiner Gegenwart oder um sein Schicksal zu ängstigen. Wenn er lachte, dachte sie, sie wären wieder in den Wäldern am Hudson: Er hatte sich nicht verändert, und das würde er auch nie.
    Das Dinner wurde in seinem Zimmer serviert. Es amüsierte sie, dass sie ihm an einem Tisch gegenübersaß, der mit der kühlen Förmlichkeit gedeckt war, die einem luxuriösen Hotelzimmer, das wie ein europäischer Palast gestaltet war, anstand.
    Das Wayne-Falkland war das vornehmste Hotel, das es auf dem ganzen Kontinent noch gab. Sein Stil war von behäbigem Luxus geprägt, von samtenen Gardinen, Wandskulpturen und Kerzenschein, und stand in offenem Kontrast zu seiner Funktion: Niemand konnte sich einen Aufenthalt dort leisten außer Geschäftsleuten, die nach New York kamen, um internationale Geschäfte abzuwickeln. Sie

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