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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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bei dem Empfang eines Botschafters in New York. Er verbeugte sich höflich vor ihr, lächelte und sah sie mit einem Blick an, der keine Vergangenheit kannte. Sie zog ihn beiseite. Sie sagte lediglich: „Warum, Francisco?“ „Warum was?“, fragte er. Sie wandte sich ab. „Ich habe dich gewarnt“, sagte er. Sie versuchte nie wieder, ihm zu begegnen.
    Sie überstand es. Sie konnte es überstehen, weil sie nicht an Leiden glaubte. Sie begegnete dem hässlichen Gefühl des Schmerzes mit verwunderter Empörung und lehnte es ab, ihm Bedeutung beizumessen. Leiden war ein sinnloser Zufall, es war nicht Teil des Lebens, wie sie es sah. Sie würde dem Schmerz nicht erlauben, Bedeutung zu erlangen. Sie hatte keinen Namen für die Art von Widerstand, den sie leistete, für das Gefühl, aus dem dieser Widerstand hervorgegangen war; doch die Worte, die ihr durch den Kopf gingen und ihm entsprachen, waren: Es zählt nicht – man darf es nicht ernst nehmen. Sie wusste, das waren die Worte, auch in jenen Augenblicken, in denen sie innerlich nur noch schrie und wünschte, sie könnte das Bewusstsein verlieren, damit es ihr nicht sagte, dass das, was nicht wahr sein konnte, doch wahr war. Man darf es nicht ernst nehmen, ließ eine unerschütterliche Gewissheit in ihrem Inneren sie sich immer wieder sagen, Schmerz und Hässlichkeit dürfen nie ernst genommen werden.
    Sie kämpfte dagegen. Sie kam darüber hinweg. Die Jahre halfen ihr, den Tag zu erleben, an dem sie ihren Erinnerungen mit Gleichgültigkeit begegnen konnte; dann den Tag, an dem sie es nicht mehr für notwendig befand, sich ihnen zu stellen. Es war vorbei und betraf sie nicht mehr.
    Es hatte in ihrem Leben keine anderen Männer gegeben. Sie wusste nicht, ob sie das unglücklich gemacht hatte. Sie hatte keine Zeit, es herauszufinden. Sie fand den reinen, vollkommenen Sinn eines Lebens, wie sie es sich wünschte, in ihrer Arbeit. Früher einmal hatte ihr Francisco dasselbe Gefühl gegeben, ein Gefühl, das zu ihrer Arbeit und zu ihrer Welt dazugehörte. Alle Männer, die sie seitdem getroffen hatte, glichen den Männern, denen sie auf ihrem ersten Ball begegnet war.
    Sie hatte den Kampf gegen ihre Erinnerungen gewonnen. Aber eine Qual blieb, unberührt von den Jahren, die Qual des Wortes „Warum?“.
    Was für ein tragisches Ereignis ihm auch immer widerfahren war, warum hatte sich Francisco den hässlichsten Fluchtweg gesucht, so würdelos wie der eines beliebigen Trunksüchtigen? Der Junge, den sie gekannt hatte, hätte nie ein nutzloser Feigling werden können. Ein so unvergleichlicher Verstand konnte seine Genialität nicht für die Erfindung schmelzender Tanzsäle verwenden. Und doch hatte er es getan und tat es noch, und es gab keine Erklärung, die es ihr begreiflich machte und sie ihn beruhigt vergessen ließ. Sie konnte das, was er gewesen war, nicht anzweifeln, sie konnte das, was aus ihm geworden war, nicht anzweifeln, und doch machte das eine das andere unmöglich. Manchmal zweifelte sie beinahe an ihrer eigenen Vernunft oder der Existenz jedweder Vernunft. Doch war dies ein Zweifel, den sie niemandem gestattete. Dennoch gab es keine Erklärung, keinen Grund, keinen Hinweis auf einen plausiblen Grund – und in den ganzen zehn Jahren hatte sie auch keinen Hinweis auf eine Antwort gefunden.
    Nein, dachte sie, als sie durch die graue Dämmerung an den verlassenen Schaufenstern leer stehender Läden vorbei zum Hotel Wayne-Falkland ging, nein, es konnte keine Antwort geben. Sie würde nicht danach suchen. Es spielte jetzt keine Rolle.
    Das Gefühl, das wie ein leichtes Zittern in ihr aufstieg, dieser Rest von Zorn, galt nicht dem Mann, den sie gleich treffen würde, es war vielmehr ein Protestruf gegen ein Sakrileg, gegen die Zerstörung dessen, was einst Geistesgröße gewesen war.
    In einem Spalt zwischen Gebäuden sah sie die Türme des Wayne-Falkland. Sie empfand einen leichten Stich in ihrer Lunge und in ihren Beinen, der sie zwang, einen Moment lang stehen zu bleiben. Dann ging sie ruhigen Schrittes weiter.
    Als sie durch die Marmorlobby zum Aufzug schritt, dann die breiten, mit Veloursteppich ausgelegten, geräuschlosen Korridore des Wayne-Falkland entlang, fühlte sie nichts mehr als eine kalte Wut, die sich mit jedem Schritt verstärkte.
    Sie war sich ihrer Wut bewusst, als sie an seine Tür klopfte. Sie hörte seine Stimme antworten: „Herein.“ Sie stieß die Tür auf und trat ein.
    Francisco Domingo Carlos Andrés Sebastián d’Anconia saß auf

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