Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
Vom Netzwerk:
gezwungen war, sich das nötige Wissen selbst zu erschließen. Er schaute sich die Zylinder, die Schaufeln, die Drähte und die Bedienfelder mit ihren noch immer flimmernden Lämpchen an. Er wehrte sich gegen die Frage, die sich ihm aufdrängte: Wie standen die Chancen, und wie lange würde es nach den mathematischen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit dauern, bis zwei einfache Männer, die nur Flickschusterei betreiben konnten, die fehlerhaften Teile finden und den Motor dieser Lokomotive wieder in Gang bringen würden?
    „Was hat es für einen Zweck, Mr. Willers?“, stöhnte der Lokführer.
    „Wir dürfen nicht aufgeben!“, schrie er.
    Er wusste nicht, wie viele Stunden inzwischen vergangen waren, als er plötzlich den Beimann rufen hörte: „Mr. Willers! Schauen Sie nur!“
    Der Beimann lehnte sich aus dem Fenster und zeigte in die Dunkelheit hinter ihnen.
    Eddie Willers blickte hinüber. Weit weg schaukelte ein merkwürdiges kleines Licht unruhig hin und her. Es schien sich ihnen kaum merklich zu nähern, und es sah nicht aus wie irgendein Licht, das er hätte zuordnen können.
    Nach einer Weile glaubte er, einige große schwarze Gestalten ausmachen zu können, die sich langsam entlang der Gleise vorwärtsbewegten. Das Licht hing knapp über dem Boden und schwang hin und her. Er spitzte die Ohren, konnte aber nichts hören.
    Dann vernahm er ein leises, gedämpftes Schlagen wie von Pferdehufen. Die beiden Männer an seiner Seite beobachteten die dunklen Gestalten mit wachsender Angst, als näherte sich ihnen aus der nächtlichen Wüste irgendeine übernatürliche Erscheinung. In dem Augenblick, in dem sie die Umrisse erkannten und plötzlich erleichtert auflachten, waren es Eddies Gesichtszüge, die vor Entsetzen erstarrten, als er ein Schreckbild erblickte, das fürchterlicher war als alles, was sie hätten erwarten können: Es war ein Planwagenzug.
    Die hin- und herschaukelnde Laterne kam mit einem Ruck neben der Lokomotive zum Stehen. „Na, mein Freund, kann ich Sie mitnehmen?“, rief ein Mann, der offenbar den Zug anführte; er lachte leise. „Sie stecken fest, stimmt’s?“
    Die Fahrgäste des Comet erschienen an den Fenstern; einige stiegen aus und näherten sich. Aus den mit Haushaltswaren beladenen Planwagen spähten Frauengesichter hervor; irgendwo am Ende der Karawane weinte ein Säugling.
    „Sind Sie verrückt?“, fragte Eddie Willers.
    „Keineswegs, ich meine es ernst, mein Freund. Wir haben jede Menge Platz. Wir nehmen Sie mit – gegen Bezahlung, versteht sich –, wenn Sie von hier weg wollen.“ Er war ein schlaksiger, nervöser Mann mit unkontrollierten Gesten und einer anmaßenden Stimme, der aussah wie ein Marktschreier.
    „Das ist der Taggart Comet“, sagte Eddie Willers mit erstickter Stimme.
    „Ein Komet, sagen Sie? Sieht in meinen Augen eher aus wie eine tote Raupe. Was ist los, mein Freund? Sie rühren sich doch nicht vom Fleck – und selbst wenn Sie wieder in Fahrt kämen, würden Sie nirgendwo ankommen.“
    „Was wollen Sie damit sagen?“
    „Sie glauben doch nicht etwa, Sie könnten nach New York fahren, oder?“
    „Und ob wir nach New York fahren!“
    „Dann … dann haben Sie es noch nicht gehört?“
    „Was?“
    „Sagen Sie, wann haben Sie das letzte Mal mit dem Personal an irgendeinem Ihrer Bahnhöfe gesprochen?“
    „Keine Ahnung! … Was gehört?“
    „Dass Ihre Taggart Bridge weg ist. Weg. In Stücke gerissen. Eine Schallwellenexplosion oder so ähnlich. Keiner weiß es genau. Fest steht nur, dass es keine Brücke mehr über dem Mississippi gibt. Es gibt keine Stadt New York mehr – zumindest keine, die für unsereinen noch erreichbar wäre.“
    Eddie Willers wusste nicht, was als Nächstes geschah. Er war rückwärts gegen den Sitz des Lokführers getaumelt und starrte auf die offene Tür der Motorenkammer. Er wusste nicht, wie lange er dort gestanden hatte, aber als er sich endlich umdrehte, sah er, dass er allein war. Der Lokführer und der Beimann hatten den Führerstand verlassen. Draußen hörte er Stimmengewirr, Schreie, Schluchzen, laute Fragen und das Lachen des Marktschreiers.
    Eddie schleppte sich ans Fenster des Führerstands: Die Passagiere und Besatzungsmitglieder des Comet scharten sich um den Anführer der Karawane und seine halb zerlumpten Kumpane; er gab Kommandos und wedelte dabei unkontrolliert mit den Armen. Einige der besser gekleideten Damen aus dem Comet – deren Gatten offenbar als Erste mit dem Anführer handelseinig geworden waren

Weitere Kostenlose Bücher