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Der stumme Tod

Der stumme Tod

Titel: Der stumme Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Kutscher
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Arschloch, dachte er, jetzt hör bloß auf, dir selber leidzutun!

Donnerstag,
 
6. März 1930

Kapitel 30
    Das Mordauto raste über die Leipziger Straße in Richtung Westen. Sie saßen zu viert im Wagen, und keiner sagte ein Wort.
    Rath schaute aus dem Fenster. Er hatte keinen Blick für die vorbeifliegenden Schaufenster und Reklameschilder, er hing seinen Gedanken nach. Und die drehten sich nicht mehr um Charly.
    Eigentlich hatte er sich auf einen ruhigen Tag in der Burg eingestellt mit genügend Zeit, um zwischendurch am Westhafen die Ford-Personalliste abzuholen, aber es war ganz anders gekommen. Man hatte eine Leiche gefunden. Mitten in die morgendliche Besprechung war die Nachricht geplatzt: weibliche Leiche in einem alten, leer stehenden Kino in Wilmersdorf. Böhm hatte die Besprechung schnell beendet, noch ein paar Instruktionen erteilt und aus dem Stand eine neue Mordkommission gebildet.
    Alfons Henning steuerte den Wagen, neben dem jungen Kriminalassistenten saß Christel Temme, die Stenotypistin; die gut gepolsterte Rückbank war den Ranghöchsten vorbehalten, Kommissar Gereon Rath und dem Ermittlungsleiter.
    Oberkommissar Wilhelm Böhm.
    Immer noch zerbrach Rath sich den Kopf darüber, was Böhm damit bezweckte. Warum er den Fall Winter in die Hände von Gräf gegeben hatte, in die Hände eines Kriminalsekretärs, und nicht in die eines Kriminalkommissars. Es schien so, als wolle Böhm ihn um keinen Preis der Welt mehr an diesem Fall arbeiten lassen. Vielleicht wegen Raths Plädoyer für den flüchtigen Krempin, vielleicht auch nur als Denkzettel für sein unbotmäßiges Verhalten.
    Dass Böhm ihn umso besser kontrollieren konnte, je enger er mit ihm zusammenarbeitete, stand jedenfalls fest. Schon jetzt, wo sie unterwegs zum Tatort waren, fühlte Rath sich unangenehm beobachtet, obwohl Böhm ihn keines Blickes würdigte. Und auch keines Wortes. Er schwieg während der ganzen Fahrt, und von den anderen traute sich auch niemand, den Mund aufzumachen. Nicht einmal den Weg musste Böhm beschreiben. Henning fand die Adresse ohne Probleme.
    Das Kino hieß Luxor und sah selbst von außen verstaubt aus, so als habe jemand die Neonröhren und Glühbirnen an der Fassade seit Jahren nicht mehr geputzt. Der Schupo vor der Glastür wirkte wie ein Kartenabreißer. Böhm und Rath grüßten schweigend, als sie hineingingen, die Stenotypistin ließ ein schüchternes »Guten Morgen« hören, und Henning war am Kofferraum des Mordautos noch mit dem Fotoapparat beschäftigt.
    Ein zweiter Schupo führte sie an den Zuschauerreihen vorbei zur Leinwand hinunter. Obwohl alle Lichter brannten, sogar an dem künstlichen Sternenhimmel an der Decke, wirkte der Saal duster. Ein paar Leute vom ED kletterten zwischen den Pfeifen der Filmorgel herum, die einen ebenso trostlosen Eindruck machte wie das gesamte Kino. Hier musste sich jemand seit Monaten geweigert haben, auch nur einen einzigen Pfennig zu investieren. Der muffige Geruch, der im Raum hing, verstärkte den Eindruck von Zerfall.
    »Jehnse da ruff«, sagte der Schupo und blieb stehen. Er zeigte auf eine steile hölzerne Treppe. »Ick selber brauch det nich noch mal.«
    Die Treppe führte ins Innere der Orgel. Es stank bestialisch; je höher sie kamen, desto schlimmer. Rath ließ Böhm den Vortritt und hielt sich ein Taschentuch vor die Nase, bevor er ihm folgte. Die Temme blieb mit ihrem Block unten stehen.
    Und dort lag die Leiche, auf einer hölzernen Plattform, die offenbar der Wartung der zerbeulten Orgelpfeifen diente, an denen jetzt ein mundschutzbewehrter Erkennungsdienstler nach Fingerabdrücken suchte. Neben den Orgelpfeifen erkannte Rath weitere Klangkörper, ein Glockenspiel, eine Trommel, einen Regenmacher und sogar eine Miniaturausgabe von Bellmanns Donnermaschine. Jetzt war auf der Wartungsplattform nicht mehr viel Platz. Die Leiche nahm fast den ganzen Freiraum zwischen den Orgelpfeifen und der Rückwand ein, so dass der ED-Mann, dem der Gestank nichts auszumachen schien, aufpassen musste, wo er hintrat.
    Rath erkannte sie in dem Moment, als er das Gesicht sehen konnte.
    Scheiße, dachte er unwillkürlich. Jetzt kannst du Oppenberg sagen, was aus ihr geworden ist. Kein Hollywoodstar.
    Er überlegte, ob man den Produzenten wohl schon informiert hatte. Wahrscheinlich nicht, erst einmal musste die Leiche identifiziert werden.
    Und das war nicht schwer. Obwohl die Verwesung ihre Spuren hinterlassen und den Körper an einigen Stellen unförmig aufgebläht hatte, war

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