Der stumme Tod
die Tote gut zu erkennen. Aus einem perfekt geschminkten Gesicht starrten ihre trüben Augen ins Leere. Die Tote wirkte, als habe man sie für Dreharbeiten zurechtgemacht, das glitzernde Kleid hätte aus einem Filmfundus stammen können.
Rath musste an die lebenslustige junge Frau denken, die er einmal kennengelernt hatte, und er spürte, wie ihm schlecht wurde angesichts dessen, was davon übrig geblieben war. Er riss sich zusammen, schaute nicht mehr auf die Leiche, sondern auf die Orgelpfeifen, die hier wie in einer metallenen Tropfsteinhöhle nach oben wuchsen. Fehlte noch, dass er vor Böhm zusammenklappte!
»Doktor schon hier?«, fragte Böhm den ED- Mann. Auch die Bulldogge hatte Probleme mit dem Luftholen. Der Erkennungsdienstler nickte, ohne sich in seiner Tätigkeit unterbrechen zu lassen, und wies mit seinem Kopf nach hinten.
Rath war froh, das Innere der Orgel verlassen zu können. Sie fanden den Gerichtsmediziner in einem Nebenraum an einem kleinen Tisch. Da saß Doktor Schwartz in Hut und Mantel und notierte etwas in ein kleines rotes Buch. Er unterbrach seine Notizen, als Böhm und Rath eintraten, und schaute das Ermittlerduo für einen kurzen Moment ungläubig an, bevor er wieder seinen teilnahmslosen, leicht zynischen Gesichtsausdruck aufsetzte. Hinter ihm standen zwei Männer an der Wand, denen anzusehen war, dass sie sich mit der Situation noch nicht ganz arrangiert hatten. Der eine, von hagerer Gestalt, knetete nervös seinen Hut zwischen den Händen und blinzelte verlegen aus einem bleichen Gesicht, während der andere, leicht übergewichtig, unter seinem hellen Filzhut rot angelaufen war und eher grimmig dreinschaute.
Böhm ignorierte die beiden Männer, die offensichtlich den Leichenfund gemeldet hatten, und wandte sich gleich dem Gerichtsmediziner zu.
»Guten Morgen, Doktor«, sagte er. »Das nenn ich aber fleißig!
Können Sie denn schon was zur Todesursache sagen?«
»Nicht viel.« Schwartz zuckte die Achseln. »Sicher nur, dass die Frau tot ist. Keine äußeren Einwirkungen, jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Umgedreht habe ich die Leiche noch nicht. Will Ihnen ja nicht ins Handwerk pfuschen.«
»Äußerst rücksichtsvoll. Wie lange ist sie denn schon tot?« »Wenn ich nach dem Grad der Verwesung gehe, würde ich sagen, mindestens drei bis vier Wochen. Aber nageln Sie mich da nicht fest, vielleicht auch länger.«
Böhm nickte. »So riecht das auch. Ein Wunder, dass man sie nicht früher entdeckt hat.«
»Hier ist seit Wochen kein Mensch mehr drin gewesen«, mischte sich der bleiche Hagere ein. Es klang entschuldigend.
»Wer sind Sie denn?«, fragte Böhm, als habe er den Mann erst jetzt entdeckt.
»Riedel. Der Makler. Ich wollte Herrn Strelow hier die Räumlichkeiten zeigen. Wir suchen neue Pächter. Hatten heute die erste Begehung mit einem Interessenten ... Haben uns schon über den Gestank gewundert, und beim Inspizieren der Orgel ... «
»Ausgerechnet Vivian Franck«, sagte Strelow, der Interessent, kopfschüttelnd. »Das war vielleicht ein Schock.«
»Kennen Sie die Dame denn?«, fragte Böhm. Was nahelegte, dass er Vivian Franck nicht kannte.
»Nicht persönlich. Aber in Verrucht habe ich sie noch gesehenl«
»Eine Filmschauspielerin?«, grummelte Böhm. »Das passt ja.« »Ich wollte das Luxor eigentlich mit ihrem neuen Tonfilm eröffnen«, sagte Strelow.
»Vom Blitz getroffen?«
Die Worte waren Rath rausgerutscht, bevor er darüber nachdenken konnte. Strelow nickte, aber Böhm schaute ihn missbilligend an.
»Sie kennen sich aber aus«, sagte der Oberkommissar, »gehen wohl zu oft ins Kino. Kennen Sie den Film?«
»Den gibt's noch gar nicht«, sagte Rath, »den sollte sie als Nächstes drehen.«
»Ihre bislang aufwendigste Produktion«, pflichtete Strelow bei.
»Ihr erster abendfüllender Sprechfilm. Von der ganzen Branche mit Neugier erwartet.«
»Na, daraus wird ja wohl nichts mehr«, meinte Böhm. »Brauchen Sie mich noch?«, meldete sich Doktor Schwartz wieder mit seiner ruhigen, sonoren Stimme und steckte sein Notizbuch ein. »Wenn Sie die Zeugen befragen wollen, könnte ich mich vielleicht wieder der Leiche widmen.«
»Sobald der Kollege Henning alle nötigen Bilder im Kasten hat«, sagte Böhm, »gehört die Leiche Ihnen.«
Kaum hatte der Doktor das Feld geräumt, funktionierte Böhm den Raum in ein Vernehmungszimmer um. Er befragte den Makler und den Kinobetreiber getrennt voneinander, während er Rath stehen ließ - ob als Türöffner,
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