Der stumme Tod
braucht mehr Wein. Eigentlich sollte er längst schon mit dem Essen begonnen haben, sein Körper schreit nach Zucker.
»Darf ich dem Herrn jetzt die Karte bringen?«
»Warten Sie noch.« Er schüttelt den Kopf. Obwohl er langsam ahnt, dass er heute allein bleiben wird.
Eine Stunde ist sie nun schon überfällig.
Er weiß nicht, warum sie ihn versetzt hat, aber er ist sich sicher, dass es etwas Wichtiges sein muss. Sie lässt ihn nicht einfach so sitzen, er weiß, dass sie längst angebissen hat. Keinen Grund, die Pläne zu ändern, zu den Aufnahmen morgen wird sie erscheinen.
Wo bleibt der Kellner? Er muss mehr Wein trinken!
Wird er sich jemals daran gewöhnen, dass Zucker sein Leben retten kann?
Du wirst dich daran gewöhnen.
Mutters Lächeln. Gewöhnen müssen.
Sein ungläubiger Blick auf das Weinglas. Darf ich?
Du musst.
Ich muss.
Er trinkt vorsichtig und schmeckt die Süße, spürt sie die Kehle hinunterrinnen.
Eiswein. Süßer Eiswein.
Ein Traum, über Jahre geträumt. Wird wahr.
Sie sitzen im Restaurant, er und Mutter. Zur Feier des Tages.
Die erste Spritze. Die erste, die er sich selbst gegeben hat, die erste Spritze nach den Tagen in der Klinik. Nach all den Versuchen mit dem Insulin.
Wieder im Leben. Nach all den Jahren des Wartens. Auf den Tod.
Seine zweite Geburt.
Die Kellner mit den Vorspeisen. Gleichzeitig stellen sie die Kristallschalen auf das weiße Tischtuch.
Mutters Lächeln. Iss, mein Junge.
Er kann nicht essen, die Tränen fließen, er beginnt hemmungslos zu schluchzen, sieht ihr bestürztes Gesicht durch den Tränenschleier.
Sie streichelt seine Hand, er zieht sie zurück, er hält ihre Berührung nicht aus, er traut ihrer Liebe nicht, er versteht ihre Liebe nicht, glaubt ihr die Liebe nicht.
Jetzt ist es vorbei. Ich werde alles wiedergutmachen. Du bist doch mein guter Junge.
Er trocknet die Tränen, nimmt die Gabel und probiert vorsichtig.
Seine Zunge schmeckt frische Krabben, Dill, die Süße von Tomaten. Die Süße überwältigt ihn, fließt durch seinen Körper.
Mutter lächelt, stochert in ihrer Schale herum, ohne zu essen.
Lächelt nur und stochert und schaut ihn unentwegt an, wie er die zweite Gabel zum Mund führt und die dritte. Sie soll ihn nicht anschauen, er ist keine Jahrmarktssensation, kein Elefantenmensch, kein Monstrum, kein Weltwunder.
Du wirst leben können wie jeder andere. Leben mit den anderen.
Endlich nimmt auch sie einen Bissen.
Schweigend essen sie, ein Kellner füllt ihre Weingläser nach. Sie
tupft ihren Mund mit der Serviette ab und hebt ihr Glas.
Auf das Leben! Auf das Leben.
Sie trinken Eiswein, süßen Eiswein. Was wirst du jetzt tun?
Ich werde studieren.
Das ist gut.
Medizin studieren.
Wieder will sie seine Hand greifen, doch noch vor der Berührung stockt ihre Bewegung, sie zieht wieder zurück. Traurigkeit in ihrem Blick.
Mein Junge, mein guter Junge!
Die Kellner kommen mit dem nächsten Gang. Gleichzeitig heben sie die silbernen Glocken von den Tellern.
Er kann es immer noch nicht glauben. Das erste richtige Essen.
Das erste richtige Essen nach den Jahren endlosen Hungerns.
Es ist vorbei. Alles wird gut. Das hat er wirklich geglaubt. Damals.
Er hat sich geirrt, gründlich geirrt.
Er schaut auf die Uhr. Nein, sie wird nicht mehr kommen. Er darf es ihr nicht übel nehmen, er kann es ihr nicht übel nehmen, das ist der Preis für die Heimlichkeit ihrer Treffen. Wenn ihr etwas dazwischenkommt, kann sie ihm nicht absagen. Nicht weiter wichtig.
Wichtig ist, dass niemand von ihren Plänen erfährt. Wichtig ist, dass sie morgen zu den Aufnahmen erscheint. Wichtig ist, dass ihre Bestimmung sich erfüllt.
Endlich kommt der Kellner mit dem Wein.
Kapitel 6
Auf der Berliner Straße herrschte um diese Zeit wenig Verkehr. Rath konnte Gas geben und peitschte den Buick über den regennassen Asphalt in Richtung Norden durch Tempelhof. Gräf saß auf dem Beifahrersitz und hielt sich unauffällig am Türgriff fest. Wahrscheinlich bedauerte er gerade, nicht mit Plisch und Plum gefahren zu sein.
Unter anderen Umständen hätte Rath vielleicht Rücksicht genommen, aber jetzt nicht, die Geschwindigkeit beruhigte ihn, und wozu sonst, zum Teufel, gab es Sportwagen?
»Gereon, ich hab's nicht eilig«, meldete der Kriminalsekretär sich vorsichtig.
»So ein Wagen muss ab und zu mal ausgefahren werden.«
»Ich rege mich über dieses Arschloch nicht weniger auf als du!
Aber deswegen musst du deine Wut nicht unbedingt am Gaspedal auslassen
Weitere Kostenlose Bücher