Der stumme Tod
endlich zog Engelbert Rath ein säuerliches Gesicht.
"Ich weiß nicht, was das soll«, sagte er, "ich besuche meinen Sohn und werde auf diese Art empfangen!«
"Was hast du denn erwartet? Seit fast einem Jahr lebe ich in dieser Stadt, und keiner von euch hat mich auch nur einmal besucht ... Und jetzt erscheinst du hier überfallartig und unangemeldet und glaubst, dass ich dir einen roten Teppich ausrolle?«
"Im Glashaus sollte man nicht zu solch dicken Steinen greifen, mein Junge«, sagte Engelbert Rath. Er musste nicht lauter werden, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. "Hast du dich auch nur ein einziges Mal bei uns blicken lassen, seit du in Berlin wohnst? Nicht einmal Weihnachten hast du in Köln verbracht! Du weißt, wie sehr sich deine Mutter darüber gefreut hätte! Stattdessen lässt du dich für den Feiertagsdienst eintragen - obwohl Karl dir freigegeben hätte.«
"Woher weißt du das denn alles? Hast du mir nachspioniert?« "Ich muss nicht spionieren, um so etwas zu wissen. Ich bin Polizist.«
"Warum vergesse ich das bloß immer wieder?«
Engelbert Rath sah müde aus, als er seinen Sohn jetzt anblickte. "Wir sehen uns so selten, Gereon«, sagte er, "wir sollten uns dann nicht auch noch streiten. Du bist der einzige Sohn, der mir geblieben ist.«
Ja, weil du dich weigerst, Severin eine Chance zu geben, dachte Gereon.
"Warum bist du hier?«, fragte er.
Engelbert Rath räusperte sich, bevor er sprach. "Wir haben eine Verabredung«, sagte er. "Ein Freund braucht deine Hilfe.«
"Ich kann mich an keine Verabredung erinnern.«
"Mit Fräulein Preußner habe ich schon gesprochen.« Engelbert Rath deutete mit dem Kopf zur Küche, in der Kathi immer noch mit dem Geschirr klapperte. "Sie ist einverstanden, wenn ich dich für eine Weile entführe. Es dauert auch nicht lange. Um neun, halb zehn bist du wieder zurück. Du kannst Hut und Mantel anlassen. Wir müssen zum Kaiserhof. «
Genau das hasste er an seinem Vater: Engelbert Rath musste alles unter Kontrolle haben, überall die Strippen ziehen, Dinge regeln, um die man ihn gar nicht gebeten hatte, immer und immer wieder. Aber mehr noch hasste Rath sich selbst dafür, dass er diesen väterlichen Vereinnahmungsversuchen so wehrlos gegenüberstand. Doch da war irgendetwas in ihm, das blockierte sämtliche Widerstandsreaktionen.
»Ich wusste doch, dass du mich nicht hängen lässt, Gereon«, sagte Engelbert Rath und stand auf. »Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es noch pünktlich.«
Die rechte Hand seines Vaters schob ihn zur Tür.
Er konnte sich nicht wehren. Er gehorchte, wie er immer gehorcht hatte.
Als sie auf den Flur traten, Vater und Sohn, stand Kathi in der Küchentür, das Geschirrtuch in der Hand, ein Denkmal der deutschen Hausfrau, und lächelte ihnen entgegen. Gereon schaute ihr kurz in die Augen, als er sich verabschiedete.
Ihr Blick sagte alles.
Sie ahnte es. Und wollte es nicht wahrhaben.
Am Moritzplatz staute sich der Verkehr, ein zerbeulter Lastwagen blockierte fast die gesamte Fahrbahn, und ein Schupo musste die Fahrzeuge einzeln an der Unfallstelle vorbeilotsen. Es war eine schweigsame Fahrt.
»Ein amerikanischer Wagen!«, hatte Engelbert Rath nur gefragt, als er sich auf den Beifahrersitz des Buick hatte fallen lassen. Missbilligung sprach aus seinem Gesicht, und Gereon hatte vor lauter Ärger nichts mehr gesagt.
Erst als sie am Moritzplatz stecken blieben, brach sein Vater das Schweigen. »Hätten doch besser ein Taxi nehmen sollen«, schimpfte er, und in Gereans Ohren klang es wie ein Vorwurf.
»Das säße genauso fest wie wir«, sagte er verärgert.
Endlich ging es weiter, der Schupo winkte den Buick an der Unfallstelle vorbei in die Oranienstraße. Bevor sie die Leipziger Straße kreuzten, mussten sie noch einmal kurz an einer roten Ampel warten, ansonsten kamen sie gut durch. Gereon tat sein Bestes. Offensichtlich war das nicht gut genug.
»Zu spät«, sagte Engelbert Rath, als er am Wilhelmplatz aus dem Auto stieg, »wir sind fast zehn Minuten zu spät!«
Du kannst mich mal, dachte Gereon und ließ sich Zeit beim Abschließen des Wagens. Sein Vater strebte bereits dem Hoteleingang entgegen.
Das Hotel Kaiserhof und seine Gastronomie waren beliebt bei Politikern und hohen Beamten aus der nahen Wilhelmstraße, genau das Passende also für Engelbert Rath, der seinen Sohn zielstrebig in das Restaurant im Erdgeschoss führte. Sogar das Stimmengewirr klang in dem eichengetäfelten Saal gesitteter als anderswo, das
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