Der stumme Tod
überhaupt nicht vorstellen.
Er brauchte noch einen Cognac, um die Bedenken beiseite zu wischen und zum Telefon zu greifen. Doch bevor er genügend Mut gesammelt hatte, klingelte es an der Wohnungstür.
Rath schaute auf die Uhr - gleich neun, später Besuch. Er stand auf und öffnete. Vor der Tür stand ein Telegrammbote in Lederkluft, die Motorradbrille in die Stirn geschoben.
»Telegramm für Gereon Rath.«
»Danke.« Rath fischte zwei Groschen aus der Hosentasche und gab dem Mann ein Trinkgeld.
Gleich nachdem er die Tür wieder geschlossen hatte, riss er den Umschlag auf und las. Aufgegeben am Kölner Hauptbahnhof vor knapp vier Stunden.
>ankomme heute 22 uhr 35 potsdamer bahnhof = naechtige hotel excelsior = zeit für ein bierchen = kommt zeit kommt rath = paul <
Rath las das Telegramm noch einmal, aber es war keine Fata Morgana. Seit seinem Geburtstag vor einem Jahr hatte er Paul nicht mehr gesehen und nun ging es holterdiepolter. Anderthalb Stunden noch. Er suchte einen frischen Anzug aus dem Schrank, duschte kurz und zog sich um. Kirie hatte er eigentlich in der Wohnung lassen wollen, aber der Hund machte ein solches Theater, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als ihn mitzunehmen.
»Man sollte dich Klette nennen«, schimpfte er, als Kirie fröhlich hechelnd auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte, »eigentlich ist es schon viel zu spät für so kleine Hunde wie dich.«
Er hatte Glück, diesmal fand er einen Parkplatz direkt vor dem Bahnhof, obwohl auf dem Potsdamer Platz die Hölle los war. Schon um zwanzig nach zehn stand Rath an der Sperre und zeigte dem Schaffner seine Bahnsteigkarte. Er hatte keine Ahnung, in welchem Wagen Paul saß, deswegen blieb er ziemlich am Anfang des Bahnsteigs stehen und suchte einen Platz, von dem er den einfahrenden Zug am besten würde sehen können.
»Sitz«, sagte er zu dem Hund, und der gehorchte wider Erwarten.
Eine Zigarettenlänge ungefähr, dann müsste der Zug eintreffen. Rath klaubte eine Overstolz aus dem Etui und hing seinen Gedanken nach.
Genau an diesem Bahnsteig war er vor einem Jahr selbst aus dem Zug gestiegen. Ihn hatte niemand am Bahnhof empfangen, kaum jemand hatte überhaupt gewusst, dass er in Berlin war. Er hatte sich einsam gefühlt, irgendwie aber auch befreit von einer zentnerschweren Last, als er langsam den Bahnsteig hinunterging und ihm alles so unwirklich erschien wie in einem Traum. Dann hatte der Bahnhof ihn in die kalte Nacht gespuckt, er hatte dagestanden und auf die Lichter, die Autos und die Menschen auf dem Potsdamer Platz gestarrt und gewusst, dass jetzt ein neues Leben anfing. Und nun kam zum ersten Mal jemand aus seinem alten Leben und besuchte ihn in seinem neuen.
Der Zug rollte ein paar Minuten zu früh ein und kam fauchend und zischend zum Stehen. Was für ein Empfangskomitee, dachte Rath, als er ihr Spiegelbild in einem der Zugfenster erblickte, ein übermüdeter Kommissar und ein verwaister Hund!
Er trat die Zigarette aus. Die Türen wurden geöffnet, und von einem Augenblick auf den anderen war der Bahnsteig von doppelt so vielen Menschen bevölkert wie zuvor. Rath suchte, konnte Paul aber nirgends entdecken. Seine Augen tasteten das Gewimmel ab, das sich über den Bahnsteig dem Ausgang entgegenschob, und fanden schließlich, was sie suchten. Paul sah aus, wie er immer ausgesehen hatte. Die blonden Haare, die sich jeder Frisur widersetzten, gebändigt allein durch den Hut, eine etwas zu große Nase, darunter ein unverschämtes Grinsen. Paul hatte sein Empfangskomitee längst entdeckt, das Grinsen wurde noch ein wenig breiter, als er sich näherte.
Die Männer blieben einen Moment voreinander stehen und schauten sich an, während rings um sie herum die Menge weiterdrängte. Sie standen sich gegenüber und musterten sich, als wolle keiner derjenige sein, der als Erster sentimental wird.
»Keine Blumen?«, meinte Paul.
»Die hat der Hund gefressen«, sagt Rath.
Dann umarmten sich die Männer ein wenig unbeholfen und klopften sich ein wenig zu fest gegenseitig auf die Schultern.
Sonntag,
9. März 1930
Kapitel 39
Auf dem Hof ist es stockfinster, aber er hat nicht vor, Licht zu machen. Wenn alles dunkel bleibt, wird ihn niemand bemerken. Schon auf der Straße hat er die Scheinwerfer ausgemacht. Niemand hat gesehen, wie er das Tor geöffnet und den Wagen auf den Hof gefahren hat. Jetzt ist das Tor wieder geschlossen, er hat den Motor ausgemacht, hier im Hof ist er sicher, hierhin kann sich kein Mensch verirren,
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