Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der stumme Tod

Der stumme Tod

Titel: Der stumme Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Kutscher
Vom Netzwerk:
einzigen dummen Streichs. Damals war er auf dieses Internat geschickt worden, und dort müssen Dinge passiert sein, so schrecklich, dass er nie darüber gesprochen hatte. Kaum hatte er die Schule beendet, hatte er sich auch schon aus dem Staub gemacht, möglichst weit weg von Köln, von der Familie, von seiner Vergangenheit, von allem. »Sie haben ihn ziemlich fertiggemacht wegen dieser Sache«, fuhr er fort. »Im Frühjahr 1914, kurz bevor der Krieg ausbrach, ist er nach Amerika abgehauen. Er war gerade neunzehn geworden.«
    »Mein Gott, ich dachte, das ist eine lustige Geschichte. Das ist ja schrecklich! Diese Sache hat deinen Bruder nach Amerika getrieben?«
    Rath zuckte die Schultern. »Nicht nur deswegen. Aber ohne diesen blöden Streich wäre wahrscheinlich einiges anders gelaufen in seinem Leben.«
    »Und in deinem?«
    »Wahrscheinlich auch. Hat mich ziemlich mitgenommen, was sie mit Severin gemacht haben. Wenn sie mich erwischt hätten, wär's schlimmer gewesen.« Er drückte die Zigarette aus. »Paul ist übrigens der einzige Mensch, der die Wahrheit kennt«, sagte er schließlich. »Und jetzt auch du.«
    »Willkommen im Club der Eingeweihten«, sagte Paul, aber Charly konnte nicht darüber lachen.
    Der Kellner kam mit ihren Schnitzeln, und sie aßen schweigend.
    Die Geschichte hatte die ungezwungene Stimmung ihres Ausflugs fürs Erste zerstört. Rath schaute zu Paul hinüber. Warum hatte der die alte Haschgeschichte ausgerechnet jetzt aufs Tapet gebracht? Natürlich, er hatte wissen wollen, wie weit Rath bei Charly gehen würde, was sie ihm bedeutete. Aber warum jetzt? Er hätte ihn doch einfach fragen können. Allerdings sprachen sie so gut wie nie über ihre Frauen. Gestern Abend hatte Rath nur erzählt, dass er verabredet sei und mit einem Mädchen ins Grüne fahren wolle.
    Paul aß schneller als gewöhnlich und war als Erster mit seinem Schnitzel fertig. Er bestellte noch eine Runde Wein und bat um die Rechnung.
    Der Wein kam, als auch Rath und Charly mit dem Essen fertig waren. Der Kellner legte die Rechnung auf den Tisch.
    »Ich übernehme«, sagte Paul, »ein kleines Dankeschön für die Einladung und den netten Nachmittag.«
    »Nichts da«, protestierte Rath, »gestern Abend ging auch schon auf deine Rechnung.«
    »Wenn ich bezahlen möchte, kann ich doch wohl bezahlen.« »Wollen sich die Herren erst duellieren oder krieje ick mein Jeld heute noch?«, meldete sich der Kellner.
    Rath zückte sein Portemonnaie und legte dem Kellner dreißig Mark in die Hand. »Stimmt so«, sagte er. Paul legte noch einen Fünfer drauf.
    Der Kellner verbeugte sich. »Schönen Tag noch, die Herrschaften.«
    Für den Weg zurück zum Bahnhof Wannsee nahmen sie den Bus.
    Paul hatte es plötzlich eilig, von ihnen wegzukommen.
    »Entschuldigt, wenn ich euch jetzt schon verlasse«, sagte er. »Aber ich denke, ich werde heute doch noch ein bisschen durch Berlin bummeln. So oft kommt man ja nicht in die Reichshauptstadt.«
    Er nahm die Bahn zum Postdamer Platz, und sie verabschiedeten sich schon auf dem Bahnsteig.
    »War schön, dich kennengelernt zu haben«, sagte er zu Charly. »Und danke für den Nachmittag.«
    »War ja nur ein halber Nachmittag«, meinte sie.
    Die Wannseebahn rollte schon in den Bahnhof, als er sich von Rath verabschiedete. »So eine findest du nicht noch einmal«, flüsterte Paul, als er Rath zum Abschied kurz umarmte, »halt sie gut fest!«
    Paul sprang in den Zug. »Vielleicht sehen wir uns noch«, rief er, kurz bevor sich die Türen schlossen.
    Kirie bellte dem abfahrenden Zug hinterher. Rath schaute Charly an. Ein ziemlich überhasteter Abschied, sie schien das ähnlich zu empfinden. Er zuckte die Schultern.
    »Das ist Paul«, sagte er. »Nicht immer ganz einfach zu verstehen.«
    »Das musst du gerade sagen! Ich glaube, er wollte einfach diskret sein und uns allein lassen.«
    »Und nun? Sollen wir wieder zurück und doch noch auf die Pfaueninsel?«
    »Ein andermal.« Sie zeigte auf die Bahnhofsuhr. »Gleich vier. Ich denke, wir fahren zurück zu deinem Auto.«
    »Und was machen wir mit dem angebrochenen Nachmittag?« »Ich hätte da schon eine Idee«, sagte sie und schmiegte sich an ihn.
    »Zu mir oder zu dir?«
    Sie lächelte ihn an. »Zu dir«, sagte sie, und ihre Lippen näherten sich seinem Mund. Er schloss die Augen und küsste sie, doch genau in diesem Moment fing der Hund plötzlich an zu bellen. Rath schaute auf - ihre Bahn fuhr ein.

Kapitel 42
    Er hatte damit gerechnet, dass der Tag am

Weitere Kostenlose Bücher