Der stumme Tod
sonst, in anderer Gestalt. Alles war anders gewesen. Und nicht weniger schrecklich.
Jetzt noch, während er mit hechelndem Atem und schweißnasser Stirn im Bett saß und an die Zimmerdecke starrte, konnte er die Traumbilder sehen, dort oben, so deutlich wie auf einer Leinwand.
Ein Wald, die Bäume ungewöhnlich gewachsen, kerzengerade, die Wipfel nicht zu sehen, die schwarzen bemoosten Stämme verloren sich irgendwo in dichter werdendem weißem Dunst, auch der Waldboden verschwand im Nebel, es war, als wüchsen die Bäume aus dem Nebel heraus und oben wieder in ihn hinein.
Er war durch diesen Wald geirrt und suchte etwas, konnte sich aber nicht erinnern, was. Dann hatte er im Einerlei der schwarzen Stämme plötzlich eine Abwechslung entdeckt, rote Farbtupfer mitten im Schwarz und Weiß. Da stand jemand. Da stand eine Frau in einem roten Mantel.
Er näherte sich der Frau, als könne er gar nicht anders, als würde er magnetisch angezogen. Die Frau drehte ihm den Rücken zu, doch er wusste, dass es Kathi sein musste, das war ihr Mantel.
»Kathi«, sagte er. »Gut dass ich dich endlich finde, ich muss mit dir reden.«
Die Frau drehte sich um, langsam, als müsse sie gegen eine zähe Masse ankämpfen. Er sah das Gesicht und konnte es nicht erkennen, die Konturen waren unscharf, als seien die Gesichtszüge in dem Brei zurückgeblieben, zu dem die Luft sich hier verdichtet hatte. Er sah dieses Gesicht wie durch eine dicke Kleisterschicht. Da öffnete sich etwas Dunkles, ihr Mund. Sie sprach, und er hörte Kathis Stimme.
»Baumgart«, sagte die Frau. »Was machen Sie denn hier?« Es musste Kathi sein, es war nicht nur ihre Stimme, es war auch ihre Figur unter dem Mantel, ihre Brüste, ihre ein wenig zu breit geratenen Hüften.
Rath wollte widersprechen, wollte seinen eigenen Namen nennen, doch er konnte nicht, kein Laut drang aus seiner Kehle, nicht einmal ein heiseres Röcheln, nichts. Stattdessen bewegte sich sein rechter Arm, er bewegte sich, ohne dass er es wollte. Rath sah, wie sich die Augen der Kathi-Frau weiteten und auf seinen Arm starrten. Er blickte zur Seite und sah das lange Messer in seiner Rechten, er wollte die Bewegung anhalten oder wenigstens umlenken, doch er konnte nicht, obwohl der Arm sich so langsam bewegte wie in einem mit falscher Geschwindigkeit laufenden Film.
»Lassen Sie mich!«, schrie Kathi nun, denn es war tatsächlich Kathi, er konnte ihr Gesicht immer deutlicher erkennen, der Kleister löste sich langsam auf und wurde transparenter. »Hilfe! Zu Hilfe!«
Unbeirrt setzte das Messer seinen Weg fort. Langsam zwar, aber dennoch mit ungebremster Wucht. Langsam drang es in Kathis Brustkorb ein, mit einem widerlich lang gezogenen, schmatzenden Geräusch. Schon beim ersten Stich war es, als habe man ihr die Luft abgedreht, Kathis Schreien erstarb sofort, doch es war noch nicht vorbei. Immer wieder stach das Messer zu, unerträglich langsam, aber unerbittlich. Endlich konnte er aufhören. Rath sah die Klinge in seiner Hand, sie war abgebrochen, dann Kathis blutüberströmten Körper, der den Baumstamm langsam hinabrutschte und die Rinde dunkelfeucht färbte.
Rath irrte weiter durch den Wald, und plötzlich sprangen oben, irgendwo über dem Nebel, Scheinwerfer mit einem elektrischen Summen an, einer nach dem anderen, und erhellten den Wald. Jetzt erst merkte er, dass er eine königlich-preußische Hauptmannsuniform trug. Die Uniform war voller Blut, aber wenigstens das Messer war verschwunden, und er spürte eine ungeheure Erleichterung.
»Suchen Sie mich?«, hörte er eine Frauenstimme fragen und wirbelte herum.
Da stand Vivian Franck vor ihm, so wie er sie aus dem Venuskeller in Erinnerung hatte. Sie lächelte ihn an, das gleiche Lächeln wie damals, als sie ihn verführen wollte.
»Wir haben noch ein Hühnchen zu rupfen, wir beide«, sagte sie, »lassen Sie uns anfangen, wir haben nicht viel Zeit!«
Mit diesen Worten entblößte sie ihren Oberkörper und zeigte ihm ihre schönen Brüste. Sie lockte ihn mit dem Zeigefinger, er solle folgen, und drehte sich um.
Als sie ihm den Rücken zu wandte, sah Rath das Messer in ihrem Rücken, ihr ganzes hübsches Tanzkleid war am Rücken blutgetränkt. Rath erkannte das Messer am Knauf: dasselbe, das er eben noch in der Hand gehalten hatte. Er wollte der Schauspielerin folgen und ihr das Messer aus dem Rücken ziehen, doch er konnte sich plötzlich nicht mehr von der Stelle bewegen, keinen Millimeter mehr. Hilflos musste er mit ansehen, wie
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