Der stumme Tod
Vivian Franck das erste Mal taumelte, sich wieder fing und ein paar Schritte weiterging, dann endgültig zu Boden stürzte und liegen blieb.
Schwarze Gestalten huschten über den Boden, durch den Bodennebel nur undeutlich zu erkennen, huschten zur Leiche hin und rissen sie auseinander, rissen sie in alle Himmelsrichtungen mit sich fort. Rath wollte eingreifen, doch seine Füße waren wie festgenagelt.
»Keine Angst! Sie kümmern sich doch nur um sie! Es wird alles gut.«
Noch bevor er sich umdrehte, wusste Rath, wer da gesprochen hatte, denn er konnte sie riechen.
Sie war zurückgekehrt.
Charly stand da an einen Baum gelehnt und lächelte ihn an, weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz. Charly. Sie hatte den Kopf zur Seite geneigt, als schäme sie sich ein wenig.
Plötzlich waren alle Sorgen vergessen, alle Sorgen um die tote Vivian und um Kathi, seine Schuld und auch die Angst. »Es wird alles gut«, hatte sie gesagt, und es stimmte. Charly war da und alles war gut.
»Du bist wieder da«, sagte er und näherte sich langsam ihrem Gesicht. Sie nickte nur. Wie gut sie roch!
Liebst du mich noch?«, fragte sie und wandte ihm ihr Gesicht zu.
Er wollte ihr antworten, doch er konnte nicht mehr, als er sah, was für eine entstellte Fratze ihn da anstarrte, er fuhr erschrocken zurück. Ihre bislang verborgene Gesichtshälfte war eine einzige, entsetzliche, verbrannte Wunde, sämtliche Haare fehlten, ihre Gesichtszüge waren nicht mehr zu erkennen.
Das war der Moment, in dem er aufgewacht war, mit klopfendem Herzen und keuchendem Atem, ihren Geruch immer noch in der Nase, doch der verflog, sobald er die Konturen seines Schlafzimmers erkannte. Und auch die Bilder verwehten wie Rauchfetzen im Wind.
Das Telefon klingelte.
Rath schaute zum Nachttisch. Der Wecker war umgefallen, die Uhrzeit nicht zu erkennen. Das Telefon klingelte wieder.
Nein, er musste da jetzt nicht rangehen.
Das Telefon klingelte noch zweimal und verstummte dann. Er richtete sich auf. In seinem Kopf pochte es nur ein bisschen, dafür schmerzten die Knöchel an seiner rechten Hand. Auf dem Stuhl lag eine Hauptmannsuniform, nicht so ordentlich gefaltet, wie es in preußischen Kasernen üblich war. Ein Schmerz durchzuckte ihn, als er sich mit der Rechten aufstützte. Verdammt! Langsam kam die Erinnerung. Seine Faust in Brenners Gesicht. Er hatte dem Arschloch eine verpasst.
Charlys entsetztes Gesicht auf der Tanzfläche. Wie sie ihn anstarrte.
Und der Cowboy neben ihr.
Rath fühlte wieder diesen Stich, den er schon gestern Abend kaum hatte ertragen können.
Verdammt!
Es war das erste Mal, dass er sie mit einem anderen Mann gesehen hatte. Er hätte nicht gedacht, dass ihn das so treffen würde.
Ihre kurze Romanze lag schon so viele Monate zurück. Warum hatte er es nur vermasselt? Er hatte sie hintergangen, belogen und ausgenutzt, etwas, das er eigentlich gar nicht hatte tun wollen, aber es hatte sich so ergeben. Und sie hatte ihm das nicht verzeihen können. Wie er selbst sich das nie hatte verzeihen können.
Was natürlich kein Trost war. Im Gegenteil.
Im Sommer hatte er noch einmal versucht sie zurückzugewinnen und war grandios gescheitert. Sie hatte mit ihm geredet, war sogar freundlich gewesen, vielleicht auch freundschaftlich, aber das änderte nichts daran, dass sie ihn hatte abblitzen lassen. Ohne Wenn und Aber.
Ihr aus dem Weg zu gehen war gar nicht so einfach, weil Charly neben ihrem Jurastudium als Stenotypistin am Alex arbeitete. Ausgerechnet in der Mordinspektion. Dennoch hatte er die unvermeidlichen Begegnungen ganz gut über die Bühne gebracht. Meistens kühl und sachlich. Und wenn sie sich einmal gestritten hatten, dann wegen Wilhelm Böhm, den Charly vergötterte und den Rath am liebsten zum Teufel gewünscht hätte.
Er hatte sie in der Burg mit allen möglichen Männern gesehen, immer im beruflich kollegialen Umgang, und das hatte ihm nichts ausgemacht, aber gestern Abend, das war etwas anderes gewesen.
Er hatte zum ersten Mal gesehen, dass sie einen Mann so angesehen hatte, wie sie ihn selbst einmal angesehen hatte. So wie er wollte, dass sie ihn wieder ansah.
Er musste sie schleunigst aus seinem Kopf bekommen!
Seine nackten Füße klebten am kalten Dielenboden, als er ins Bad ging. Er pinkelte und warf den Badeofen an, dann ging er ins Wohnzimmer und legte eine Platte auf. Sein Cognacglas stand noch immer auf dem Tisch. Er nahm es mit in die Küche und stellte es in die Spüle. Die Küchenuhr zeigte halb
Weitere Kostenlose Bücher