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Der stumme Tod

Der stumme Tod

Titel: Der stumme Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Kutscher
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riss sich los. Er verließ den Saal, ohne sich noch einmal umzuschauen.

Kapitel 13
    Alles hat er vorbereitet, das Licht eingerichtet, der Film .n. in der Kamera, die Instrumente zurechtgelegt, die Spritze aufgezogen, alles bereit. Als er all die Einzelheiten seiner exakten Vorbereitung erblickt, trifft ihn das Gefühl der Ohnmacht noch einmal mit ganzer Wucht, dieses Gefühl, das ihm die Knie wegknicken und in der Magengrube eine Leere empfinden lässt wie im freien Fall, dieses seltsam hohle Gefühl, das er sonst nur aus seinen Träumen kennt, dieses Gefühl, das einen die eigene Mitte spüren lässt und das Schlimmste - dass diese Mitte leer ist.
    Hier hätte es stattfinden sollen. Jetzt hätte es stattfinden sollen. Würde sie noch leben.
    Das Ohnmachtsgefühl bleibt. Es bleibt und lässt ein Bild auftauchen, das er längst vergessen glaubte, das er vor Jahren schon ins Meer geworfen und versenkt hat, auf dass es nie wieder an die Oberfläche komme. Doch nun taucht es auf, als er die Augen schließt, langsam trudelnd, sich um die eigene Achse drehend, sodass er es von allen Seiten betrachten kann. Selbst mit geschlossenen Augen sieht er ...
    Selbst mit geschlossenen Augen sieht er Anna.
    Annas Gesicht, ihre Konturen, ihr wunderschönes Profil, das sich abzeichnet gegen das helle Fenster.
    Ihr Mund bewegt sich sanft und leise.
    Es ist doch nicht schlimm, hört er den Mund sagen.
    Ihre Hand, die ihn streicheln will, und er zuckt zurück. Setzt sich auf. Wendet sich ab.
    Ich liebe dich, hört er sie sagen. Wir werden das schon hinkriegen.
    Nichts werden wir hinkriegen.
    Sein erster Satz nach dem Versagen. Nichts werden wir hinkriegen.
    Er hätte es wissen müssen. Er hat auf ein Wunder gehofft, auf die Liebe, auf Anna, die er so unendlich begehrt. Er hat die Krankheit unterschätzt. Sie ist stärker als alles andere. Er hat sie nicht besiegt, wie hat er sich das nur jemals einbilden können? Er wird sie niemals besiegen, er kann sie höchstens für eine Weile vergessen.
    Die Krankheit hat ihn zerstört, ein Neutrum aus ihm gemacht, ein Nichts, einen Geist, der rastlos durch die Welt wandelt, einen geschlechtslosen Geist, den niemand erlösen kann.
    Wir werden es schon hinkriegen, sagt Anna, wir haben Zeit. Viel Zeit. Ich möchte mein Leben mit dir teilen.
    Unmöglich, sagt er, ich bin nicht normal. Ich werde nie normal sein können.
    Wer ist schon normal? Niemand. Wir als Mediziner sollten das am besten wissen.
    Es hat keinen Zweck. Ich werde dir nie ein richtiger Mann sein können. Nie.
    Du bist ein begehrenswerter Mann. Weißt du überhaupt, wie sehr mich die Kommilitoninnen beneiden? Ganz zu schweigen von den Krankenschwestern, die sich nach dir verzehren?
    Sie lacht. Warum lacht sie?
    Ich bin eine einzige Lüge, eine leere Hülle, ich bin kein Mann. Sie will ihn in den Arm nehmen, und er stößt sie fort.
    Ihr Schrei, als sie sich den Kopf an der Nachttischkante stößt.
    Ihre Hand, die in Blut fasst und die sie fassungslos anstarrt. Die Tränen, die ihr in die Augen schießen.
    Er hat das nicht gewollt, er wollte sie nicht verletzen, niemals wollte er das, aber er ist unfähig, zu ihr hinzugehen, sie zu trösten, sich zu entschuldigen, er sitzt da wie gelähmt und schaut sie nur an, und schließlich wendet er den Blick ab.
    Er sieht nicht mehr, wie sie sich ankleidet, hört nur die Tür schlagen, als sie das Zimmer verlässt.
    Ihr entsetztes Gesicht, ihre Augen, die auf das Blut starren, das die Hand von der Stirn gewischt hat ... Das wird das Letzte bleiben, was er von ihr gesehen hat.
    Er geht nicht mehr zurück zur Universität.
    Er hat nie wieder ein Rendezvous mit einer Frau. Wenige Tage später kauft er sein erstes Kino.
    Er weiß jetzt, wo er hingehört, die Krankheit hat es ihm gezeigt. Das Paradies: ein Kinosaal, in dem ein endloser Film läuft mit
    den Bildern seiner Träume und den Stimmen, die er in den Bildern hört, und den Gesängen. Die tönenden Bilder, die sein Heimweh stillen, das eigentlich ein Fernweh ist, eine Sehnsucht, die keine Richtung kennt und kein Ziel.

Sonntag,   2.März 1930

Kapitel 14
    Die Dämonen waren wiedergekommen.
    Sie waren wiedergekommen, nur hatte er sie zunächst nicht erkannt.
    Mit klopfendem Herzen lag er in seinem Bett. Er wusste nicht gleich, wo er sich befand, aus dem Halbdunkel schälten sich langsam vertraute Konturen, die Umrisse seines Schlafzimmers. Die schweren Vorhänge ließen nur wenig Licht hinein.
    Die Dämonen waren wiedergekommen, doch anders als

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