Der stumme Tod
so skrupellos sein konnte, die Szene, bei der man die eigene Frau hatte sterben sehen müssen, mit einem Double noch einmal zu drehen. Und das nur zwei Tage nach der Tragödie. Eine Szene, die locker und lustig war und ohne jede Tragik. Wie konnte man so etwas spielen nach so einem Schicksalsschlag?
Es klopfte an der Tür. Rath schaute auf die Uhr: fünf nach elf. »Herein«, sagte er, und eine Frau steckte ihren Kopf durch die Tür. Er erkannte die graue Maus, die sich am Freitag um Meisner gekümmert hatte.
»Guten Morgen. Sind Sie Kommissar Rath?« Sie schien kein gutes Gedächtnis für Gesichter zu haben. Jedenfalls nicht für seins.
Rath nickte. Die Tür öffnete sich und gab die Sicht frei auf einen Victor Meisner, der noch bleicher wirkte als vor drei Tagen. Eine schwarze Brille, die er vor den Augen trug, ließ seine Gesichtsfarbe beinah weiß wirken. Die Frau zog ihn an der Hand in den Raum. Die Sonnenbrille verstärkte den Eindruck, als werde hier ein Blinder zu seinem Stuhl geführt.
»Guten Morgen, Herr Meisner«, sagte Rath, »guten Morgen, Frau ... «
»Bellmann, Cora Bellmann«, sagte die Frau. »Ich würde Herrn Meisner bei diesem schweren Gespräch gern zur Seite stehen, wenn Sie nichts dagegen haben.«
»Das ist zwar etwas ungewöhnlich, Frau Bellmann«, meinte Rath, »aber in Anbetracht der Umstände kann ich eine Ausnahme machen. Vielleicht kann ich Ihnen bei dieser Gelegenheit gleich auch noch ein paar Fragen stellen. Sie sind die Tochter ... «
» ... von Heinrich Bellmann. Richtig.« »Ihr Vater hat mir gar nicht erzählt ... «
»Er macht darum auch nicht viel Aufhebens. Ich soll das Geschäft von der Pike auf lernen, sagt er. Er behandelt mich nicht besser als seine übrigen Angestellten. Eher schlechter.«
»Nehmen Sie doch bitte Platz.«
Sie schob Meisner, der noch immer nicht gegrüßt hatte und durch die dunklen Gläser Löcher in die Luft zu starren schien, einen Stuhl hin und setzte sich selbst auf einen zweiten.
»Herr Meisner«, begann Rath, »es ist sehr freundlich von Ihnen, dass Sie sich herbemüht haben. Wenn Sie bitte die Brille abnehmen könnten? Ich sehe meinen Gesprächspartnern gern in die Augen.«
»Wenn Sie es wünschen.« Meisners Stimme klang heiser. Eine brüchige Heiserkeit, so als müsse er sich ans Sprechen erst langsam wieder gewöhnen. Er nahm die Sonnenbrille ab und offenbarte zwei rot umränderte Augen mit dicken Tränensäcken. Wie ein jugendlicher Held sah er jetzt wirklich nicht mehr aus. Kaum zu glauben, dass er in diesem Zustand mit Eva Kröger vor der Kamera gestanden hatte. In einer Komödie! Konnten Schauspieler sich derart selbst verleugnen? Mussten sie das womöglich, wenn sie Erfolg haben wollten? Oder einen skrupellosen Chef wie Heinrich Bellmann hatten?
»Ich möchte Ihnen noch einmal mein Beileid aussprechen zum Tod Ihrer Frau, Herr Meisner ... «
Meisner schaute ihn an, als sei er aus Glas, er schien Rath überhaupt nicht wahrzunehmen, sondern auf irgendetwas in weiter Ferne zu stieren.
» ... ich weiß, das ist jetzt nicht leicht für Sie«, fuhr Rath fort, »aber ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen.«
Meisner nickte.
»Wie hat sich das Unglück aus Ihrer Sicht abgespielt? Können Sie mir bitte den genauen Ablauf schildern.«
Die Augen des Schauspielers wurden größer. Die Erinnerung schien ihn zu schrecken.
»Wir haben die Szene gespielt«, sagte er schließlich mit leiser Stimme, »zum zweiten Mal, und ich hatte das Gefühl, dass Dressler es diesmal kaufen würde, es lief wie am Schnürchen, Betty war wundervoll. Wir waren schon durch, da gab es diese Technikpanne, der Donner funktionierte nicht. Ich dachte: egal. Machen sie's halt später drauf, so was geht ja auch.«
Rath nickte. Verständnisvoll wie ein Pastor im Beichtstuhl. »Und dann ist es auch schon passiert«, fuhr Meisner fort. »Das Licht wackelte irgendwie, und dann ... « Er brach ab. »Mein Gott! Ich wusste erst gar nicht, was los war. Erst als ich sie da liegen sah ... «
»Warum haben Sie Ihre Frau nicht weggezogen? Warum haben Sie den Löscheimer geholt?«
»Wegziehen? Das ging doch nicht. Und wie soll ich Ihnen sagen, warum ich den Eimer geholt habe? Ich weiß es doch selbst nicht! Ich habe nicht nachgedacht in dem Moment, außer vielleicht: Mein Gott, Betty verbrennt! Wenn ich daran denke, wie sie geschrien hat! Der Eimer stand ganz in der Nähe hinter den Kulissen, alle paar Meter steht da einer. Der Chef hat uns doch immer eingeschärft, wie wichtig
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