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Der stumme Tod

Der stumme Tod

Titel: Der stumme Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Kutscher
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die sind, einmal im Monat haben wir Feuerschutzübung. Und da habe ich einfach den nächsten Eimer gegriffen. Mein Gott, ihre Schreie! Ich muss nur die Augen schließen, dann höre ich sie wieder.«
    Und genau das tat Meisner: Er schloss die Augen.
    Rath überkam langsam das Gefühl, dass auch der trauernde Witwer für Victor Meisner nichts weiter war als eine Rolle, das ganze Leben schien für den Mann nur aus unterschiedlichen Rollen zu bestehen.
    »Wie war es denn mit Eva Kröger?«, fragte der Kommissar in die Stille hinein.
    »Wie bitte?« Meisner hatte die Augen wieder geöffnet und schaute ihn an.
    »Sie haben die Szene mit ihr doch noch einmal gedreht. Wie war das für Sie?«
    Cora Bellmann mischte sich ein.
    »Wie können Sie es wagen?«, sagte sie und stand von ihrem Stuhl auf, »wissen Sie, was Victor in den letzten Tagen durchgemacht hat? Was er immer noch durchmacht? Wie können Sie ihm dann seine Professionalität zum Vorwurf machen? Er ist Schauspieler. Von einem Schauspieler erwartet man, dass er sein Privatleben vollkommen ausblendet, wenn er seine Rolle spielt, dass er funktioniert, sobald die Kamera läuft!«
    Meisner zog sie zurück auf ihren Stuhl. »Lass gut sein, Cora«, sagte er, »der Kommissar hat doch recht. Ich weiß selbst nicht, wer da gestern vor der Kamera gestanden hat, irgendein Automat, der einen Text aufsagen konnte, aber das war doch nicht ich.«
    Ein Automat, der einen Text aufsagt, also wie immer, dachte Rath, der sich an Meisners letzten Abenteuerfilm erinnerte.
    »Wie werden Sie mit dem Tod Ihrer Frau fertig?«, fragte er.
    »Seit ihrem Tod ist kein Tag vergangen, an dem ich nicht gewünscht hätte, ich könne die Zeit zurückdrehen, einfach so, wie man einen Film zurückspult, und sie wieder lebendig machen.« Er stockte. »Mein Gott, wie ich sie vermisse«, sagte er heiser. Meisner verzog sein Gesicht zu einer Grimasse und fing lautlos an zu weinen.
    Rath schaute ihm hilflos zu.
    »Ich bin ein Mörder, Herr Kommissar«, schrie Meisner plötzlich und sprang von seinem Stuhl auf, der polternd nach hinten kippte, »ich habe meine eigene Frau umgebracht!« Er streckte Rath seine zusammengepressten Handgelenke entgegen. »Ich habe Betty umgebracht, ich bin schuld an ihrem Tod, ich ganz allein! Nehmen Sie mich fest!«
    »Beruhigen Sie sich doch! Niemand wirft Ihnen etwas vor, und Sie selbst sollten das auch nicht tun! Jemand hat den Scheinwerfer so manipuliert, dass er genau auf Ihre Frau stürzen musste, und dieser Jemand hat ihren Tod gewollt oder zumindest in Kauf genommen, nicht Sie!«
    »Was ändert das schon? Ohne mich würde sie noch leben!«
    » ... und läge mit lebensgefährlichen Verletzungen in der Charite Wenn es überhaupt zu einer Anklage gegen Sie kommen wird«, meinte Rath und erntete einen bösen Blick von Cora Bellmann, »dann wegen fahrlässiger Tötung. Aber kein Richter in Berlin wird einen trauernden Witwer deswegen auch verurteilen, glauben Sie mir!«
    »Das ändert doch nichts! Sie ist tot«, brüllte Meisner ihn an, »verstehen Sie das nicht? Sie ist tot, und ich habe sie umgebracht! Ist doch scheißegal, was irgendwelche Richter dazu sagen!«
    Er verbarg sein Gesicht in den Händen und wandte sich ab, da stand Cora Bellmann schon neben ihm und nahm ihn in den Arm. Sie tätschelte ihn und flüsterte ihm etwas ins Ohr, als wolle sie ein nervöses Rennpferd beruhigen. In diesem Moment war Rath froh, dass er mit Meisner nicht allein im Raum war. Ein Drecksack, den er ausquetschen konnte, war ihm lieber als ein verzweifelter Witwer kurz vor dem Nervenzusammenbruch.
    Meisner schluchzte still in seine Hände, ab und zu wurde sein Körper heftig geschüttelt. Cora Bellmann schaute Rath an, als wolle sie sagen: Das haben Sie ja toll hinbekommen, Herr Kommissar!
    »Ich glaube, es ist besser, Sie gehen jetzt wieder«, sagte Rath, und sie führte das schluchzende Nervenbündel hinaus. In der Tür warf sie dem Kommissar einen letzten vorwurfsvollen Blick zu, als trüge allein er die Schuld am Nervenzusammenbruch Victor Meisners. Sie hatte dem Mann wieder seine Sonnenbrille aufgesetzt, wahrscheinlich, damit ihn draußen auf dem Alex niemand erkannte, und Rath dachte für einen Augenblick, wenn die beiden nur ein bisschen ärmlicher gekleidet wären, könnten sie auf der Weidendammer Brücke eine Menge Geld verdienen, mit Streichhölzern oder Schnürsenkeln oder einfach mit dem Hut. Er schüttelte den Kopf. Aus diesen Filmfritzen wurde er einfach nicht schlau: Vor der

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