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Der stumme Tod

Der stumme Tod

Titel: Der stumme Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Kutscher
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und zusammengesunken in seinem Sessel und starrte nach vorn. Das, was er da eben gesehen hatte, schien ihn mitgenommen zu haben.
    »Ende der Vorstellung«, sagte Winkler in die Stille, in der außer dem Surren des Projektors und dem Kratzen im Lautsprecher nichts mehr zu hören war. »Wollen Sie's noch mal sehen?«
    Rath nickte. »Können Sie's diesmal etwas langsamer ablaufen lassen? Ab der Ohrfeige, meine ich?«
    Der Kameramann ließ die Rollen zurücklaufen, bis zu dem Kameraschwenk, der Betty Winter zum Kamin folgte. Dann spielte er Film und Ton noch einmal in verminderter Geschwindigkeit ab, die Stimme der Schauspielerin hörte sich seltsam tief an, ihre Bewegungen waren zähflüssig, das alles wirkte beinahe komisch, nur dass sie alle drei wussten, dass es nicht komisch war.
    Dann kam die Ohrfeige. Noch bevor ihre Hand das Gesicht traf und Meisner zurückwich, hörte Rath wieder das metallische Geräusch, diesmal eher ein Plong als ein Pling, dann das Klatschen der Ohrfeige, das sich in dieser Tonlage anhörte, als würde man einen Stiefel aus dem Matsch ziehen. Betty Winter schloss die Augen.
    »Sie vermisst den Donner«, flüsterte Dressler. »Sie hat alles richtig gemacht, und der Donner kommt nicht, deswegen guckt sie so sauer.«
    »Sie guckt gar nicht«, verbesserte Rath, »deswegen merkt sie auch nicht, was passiert.«
    Der Scheinwerfer kam ins Bild, immer noch sehr schnell, trotz der langsamen Abspielgeschwindigkeit, und Rath sah das Gesicht von Betty Winter, als sie getroffen wurde. Sie konnte nicht einmal die Augen öffnen, da wurde ihr Gesicht auch schon aus dem Blickfeld der Kamera gerissen.
    Es dauerte eine ganze Weile, bis die Kamera sie wieder eingefangen hatte, Betty Winter, die Augen weit aufgerissen, auf dem Boden liegend und schreiend, mit einer viel zu tiefen, dämonisch klingenden Stimme. Es war unerträglich, Rath war kurz davor, sich die Ohren zuzuhalten. Dressler tat es.
    »Mach doch aus, Harry«, fuhr er den Kameramann an, »das ist ja nicht zum Aushalten!«
    Der zuckte die Achseln. »Der Kommissar möchte es doch sehen.«
    »Schon gut, machen Sie ruhig aus«, meinte Rath, »ich habe vorerst genug gesehen. Schade, dass man nirgendwo erkennen kann, was Meisner macht. Wie er reagiert, wie er den Wassereimer holt, und so weiter.«
    »Hier muss irgendwo auch die Rolle mit dem Gegenschuss sein«, sagte Dressler, »vielleicht ist da was drauf.«
    »Gegenschuss?«
    »Eine andere Perspektive. Für Meisners Dialog. Da sehen Sie mehr von ihm.«
    »Ich weiß aber nicht«, meldete sich Winkler, »wie lange Hermann seine Kamera hat laufen lassen.«
    »Dann schauen wir's uns doch einfach einmal an«, schlug Rath vor.
    Winkler wechselte die Filmrollen aus, und kurz darauf sahen sie die Szene noch einmal aus einer anderen Perspektive. Diesmal ließ Winkler keine Tonspur mitlaufen. Victor Meisner bewegte seine Lippen, doch er blieb stumm, sein Gesicht war immer frontal und in Großaufnahme zu sehen. Eine Hand klatschte auf seine Wange, Bettys Ohrfeige, und man sah, wie Meisner vor Schreck einen Schritt nach hinten machte. Dann raste etwas Schwarzes durchs Bild, und im Gesicht des Schauspielers zeichnete sich so etwas wie ungläubiges Entsetzen ab. Sein Oberkörper beugte sich vor, und dann verschwand Meisner. Auch diese Kamera lief weiter, veränderte aber ihre Einstellung nicht. Nach einem kurzen Moment erschien der Schauspieler wieder im Bild, seinem ernsten Gesicht war nicht anzusehen, was er machte, doch Rath wusste, dass er gleich den Eimer schwang. Ein Stück des lackierten Blecheimers war kurz zu sehen, dann wurde auch dieser Film dunkel.
    »Auch das noch mal in Zeitlupe?«, fragte Winkler. »Wie?«
    »So nennen wir es, wenn wir den Film langsamer laufen lassen«, erklärte Dressler.
    Rath nickte. »Bitte die Zeitlupe«, sagte er.
    Der Film lief noch einmal, und Rath versuchte, in Meisners Miene zu lesen, in seinen Augen. Was ging ihm durch den Kopf, als er aus nächster Nähe mit ansehen musste, wie seine Frau von einem zentnerschweren Scheinwerfer getroffen wurde? Nach der Ohrfeige lag ein Ausdruck der Überraschung in seinem Gesicht, wahrscheinlich gespielte, vielleicht auch echte, weil sie seine Wange wirklich getroffen hatte. Oder hatte er in diesem Moment schon im Augenwinkel den herabpolternden Scheinwerfer entdeckt und war deswegen instinktiv zurückgewichen? Und seine Frau hatte es nicht gesehen, weil sie die Augen geschlossen hatte? Kein Wunder, dass Meisner sich dann Vorwürfe machte:

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