Der stumme Tod
Hätte er seine Frau mit einer anderen Reaktion noch retten, sie mit einem beherzten Sprung aus der Gefahrenzone bringen können?
»Noch einmal in normaler Geschwindigkeit«, sagte Rath.
Dann schaute er auf den Sekundenzeiger seiner Armbanduhr und passte den Moment ab, in dem Meisner verschwand, um den Eimer zu holen. Keine fünf Sekunden brauchte er, im wahrsten Sinne eine Kurzschlussreaktion.
»Gut«, sagte er, »geben Sie mir diese beiden Rollen mit, dann muss ich Sie nicht länger belästigen.«
Dressler schaute ihn an, als habe Rath ihn gerade um die Hauptrolle in seinem nächsten Film gebeten.
»Wie?«
»Ich nehme die Rollen mit. Am Alex haben wir auch Projektoren.«
»Aber ... ich brauche das Material«, protestierte Dressler. »Ich brauche so viel von Betty, wie ich bekommen kann, auch wenn Eva ein paar Szenen gedoubelt hat. Bellmann möchte den Film trotz aller Widrigkeiten so schnell wie möglich in die Kinos bringen, wir wollen heute Nachmittag mit dem Schnitt beginnen.«
»Dann lassen Sie doch für Ihre Zwecke eine Kopie ziehen«, meinte Rath, »wir sind hier doch in einem Kopierwerk, oder?« »Und wer zahlt das?«
»Der Steuerzahler. Stellen Sie dem Freistaat Preußen die Kosten in Rechnung.«
Dressler nickte. »Gut«, meinte er. »Kannst du dich darum kümmern, Harry? Sag denen, sie sollen sich beeilen, es ist für die Polizei.«
Der Kameramann nickte, packte die beiden Filmrollen zurück in ihre Blechdosen und verschwand.
»Wenn Sie nichts dagegen haben, nutze ich die Zeit und schaue mir die restlichen Muster an«, sagte Dressler.
Er kannte sich mit den Geräten genauso gut aus wie der Kameramann. Schon bald flirrten weitere Szenen über die Leinwand, alle mit Ton. Dressler machte sich Notizen, mal zum Ton, mal zum Bild. Rath schaute einfach zu und versuchte sich vorzustellen, er säße im Kino. Er sah weitere Szenen, die alle im Kaminzimmer spielten. Betty Winter spielte ganz gut, so weit er das beurteilen konnte, jedenfalls deutlich besser als ihr Ehemann, den Rath schon als abenteuerlustigen Detektiv im Kino nicht sonderlich überzeugend gefunden hatte. Wenn Meisner und Winter ein Traumpaar gewesen sein sollten, dann war Betty Winter darin ganz allein für die Silbe Traum zuständig gewesen.
Plötzlich stutzte er. Die Kamera filmte eine Szene an der Tür.
Meisner hatte seiner Frau gerade geöffnet, und schon im Türrahmen begannen sie ihren Disput. Was Rath irritierte, war allerdings etwas anderes.
Die Perspektive.
Die Kamera musste genau dort stehen, wo er eben noch Betty Winter hatte zu Boden gehen sehen, genau am Kamin.
»Wo ist denn das?«, rief er aus, und Dressler schaute ihn zum zweiten Mal an diesem Morgen an, als habe er den Verstand verloren.
»Sie kennen die Kulisse doch.«
»Ich meine: Wo steht die Kamera da? Ist das nicht die Stelle, an der Betty Winter gestorben ist? Direkt vor dem Kamin?«
In diesem Moment krachte ein gewaltiges Donnern aus den Lautsprechern, und Rath zuckte zusammen.
Kapitel 19
Mit zwei Filmrollen und einem Drehbuch unter dem Arm traf Rath um Viertel vor elf am Alex ein. Er hatte den Wagen an den Stadtbahnbögen geparkt und den Publikumseingang genommen, hier waren kaum Beamte unterwegs, fast nur Zivilisten. Schon im Treppenhaus holte ihn die Luft mit ihrem unverwechselbaren Geruch zurück in den Arbeitsalltag, diese eigentümliche Mischung aus Schweiß, Tinte, Blut, Leder, Papier und ab und zu ein bisschen Pulverdampf, der vom Schießstand herüberwehte. Je näher man den Gewahrsamszellen im Südflügel kam, desto mehr nahm der Schweißgeruch zu, mischte sich der Gestank von Urin und Angst darunter. Die Burg, dieses klobige, Respekt einflößende Gebäude, dieser riesige, unüberschaubare Polizeiapparat, hatte ihn wieder verschluckt, das Gefühl von Freiheit, das er bei der Arbeit auf der Straße genoss, gleich wieder erstickt, obwohl Rath wusste, dass Böhm noch mit Gräf draußen in Marienfelde sein musste; die Sicherung der Spuren an den Beleuchtungsbrücken würde einige Zeit in Anspruch nehmen. üb sie viel mehr finden würden als den Draht und die Ösen, bezweifelte Rath, aber Böhm wäre fürs Erste beschäftigt. Außerdem konnte es nicht schaden, von all diesen Dingen ein paar scharfe Fotografien zu bekommen, und vielleicht gelang den Technikexperten sogar eine Rekonstruktion der Apparatur, die Betty Winter das Leben gekostet hatte.
Dass es Krempins Konstruktion war, daran hegte Rath keinerlei Zweifel mehr. Auch nicht daran, dass der
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