Der stumme Tod
der war am Samstag auf dem Friedhof gewesen.
»Wenn Gräf sich meldet, stellen Sie ihn bitte sofort zu mir durch.
Und versuchen Sie mal, ob Sie ihn unterwegs erreichen.«
»Wenn das so schwierig wird wie bei Ihnen in den letzten Tagen, kann ich Ihnen da nicht viel Hoffnung machen, Herr Kommissar«, sagte Erika Voss und schloss die Tür.
Rath begann die Unterlagen zu sortieren und hatte schon bald Papierstapel unterschiedlicher Höhe angehäuft. Gesprächsprotokolle, Berichte, Tatortbeschreibungen, Tatortfotos, medizinische Gutachten, technische Gutachten, Beweislisten, Zusammenfassungen, mögliche Schlussfolgerungen. Wenigstens konnte er Gräfs Schreibtisch mitbenutzen.
Um eins klingelte das Telefon. Rath hoffte auf Gräf und wurde enttäuscht. Nur Erika Voss, die wieder einmal zu faul war aufzustehen.
»Herr Kommissar? Hier steht ein Herr Ziehlke, der möchte Sie sprechen. «
Richtig! Den hatte er ganz vergessen.
»Soll reinkommen«, sagte er, und kurz darauf klopfte es. Friedhelm Ziehlke hatte seine Mütze abgenommen und knetete
sie zwischen den Händen.
»Da wär ick, Herr Kommissar«, sagte er und schaute sich um. »Nett hamset hier.«
Rath wollte dem Taxifahrer einen Platz anbieten, aber dann merkte er, dass auch auf dem Besucherstuhl ein Papierstapel mit Wessel- Protokollen lag.
»Lassen Sie uns lieber nach draußen gehen«, meinte Rath. »Hier ist es gerade ein bisschen ungemütlich.« »Frühjahrsputz, wa!« Ziehlke lachte. »Lust auf ein Bier bei Aschinger?«
»lek bin noch im Dienst. Aber 'ne Bratwurst oder so, da würd ick nich nee sagen, wa!«
Draußen auf dem Alex war es laut. Die Dampframmen trieben immer noch Stützeisen in den Boden, obwohl die U-Bahn angeblich so gut wie fertig war. Überall versperrten Bauzäune den Weg; Rath hatte das Gefühl, dass sie beinahe täglich ihren Standort wechselten, sodass man sich jedes Mal den Weg durch ein neues Labyrinth suchen musste, um den Platz zu überqueren.
»War schon lange nich mehr hier«, meinte Ziehlke. »Jeder Taxifahrer, der einijermaßen bei Verstand ist, versucht den Alex zu meiden.«
So viel am Alexanderplatz auch abgerissen worden war, Aschinger hielt nach wie vor die Stellung. Der Altbau war zum Abriss bestimmt, aber auch das Restaurant sollte in einem der geplanten Neubauten eine neue Heimat finden, das verrieten kleine Plakate der geneigten Kundschaft. Den Alex ohne Aschinger, das hätte Rath sich auch kaum vorstellen können. Das halbe Präsidium aß hier zu Mittag oder trank sein Feierabendbierchen.
Wie immer um die Mittagszeit war es rappelvoll. Rath bestellte einmal Bierwurst mit Kartoffelsalat und eine Sinalco für Ziehlke, und für sich selbst Rinderbraten mit Kartoffelklößen und ein Glas Selters. Wenigstens wollte der Mann keine gebratene Leber essen.
»Nett, det Se mir einladen«, meinte Ziehlke und begann seine Bierwurst zu zerschneiden. »lek soll mir also Fotos angucken.« Rath nickte und machte sich über seinen Braten her. »Ich möchte, dass Sie sich jedes Bild ganz genau anschauen. Vielleicht ist der Mann dabei, der Vivian Franck damals abgeholt hat. Aber lassen Sie uns erst mal essen.«
»Warum suchense die Franck eijentlich?«, fragte Ziehlke zwischen zwei Gabeln Kartoffelsalat. »Det hamse mir immer noch nich verraten. «
»Sie wird vermisst«, sagte Rath nur.
Nachdem der Kellner abgeräumt hatte, holte Rath Oppenbergs Umschlag aus der Tasche. Es waren fast zwanzig Porträts, nicht nur von Schauspielern, auch andere Männer, denen Oppenberg offenbar zutraute, sich heimlich mit Vivian zu treffen, darunter Felix Krempin, allerdings ein besseres Foto als Bellmanns Weihnachtsfeierschnappschuss. Der Taxifahrer nahm sich Zeit für jedes Bild, schüttelte aber jedes Mal den Kopf. Nur zweimal zögerte er, bevor er das Foto mit einem bestimmten »Nee!« beiseitelegte. Das eine Mal bei Krempin, bis er bemerkte: »Den kenn ick aus der Zeitung, den suchen se doch, oder?«, das zweite Mal bei einem dunkelhaarigen Schauspieler, aber auch da winkte er schließlich ab. »Ne, doch nich. Is ihm nur vom Typ her ähnlich.«
Rath sortierte das Porträt des vom Typ her ähnlichen Schauspielers aus und bedankte sich bei Ziehlke. »Wenn Sie den Mann irgendwo wiedererkennen, wenn Sie ihn auf einem Kinoplakat sehen, wenn er zu Ihnen ins Taxi steigt, selbst wenn Sie ihn nur auf der Straße sehen: rufen Sie mich bitte sofort an«, sagte er. »Zu jeder Tageszeit!«
Noch bevor er zurück in die Burg ging, suchte Rath eine
Weitere Kostenlose Bücher