Der Stundenzaehler
Menschen, sich mit rasender Geschwindigkeit fortzubewegen.
Doch trotz allem, was sie vollbringen konnten, schienen die Menschen niemals Frieden zu finden. Unentwegt benutzten sie diese Geräte, um die Zeit zu messen â wie Dor es einst mit Stab, Stein und Schatten begonnen hatte.
Warum wolltest du Tage und Nächte zählen?
Ich wollte etwas wissen.
Hoch oben über der Stadt erkannte Vater Zeit, dass Wissen und Verstehen nicht ein und dasselbe ist.
58
Kein Morphium.
Noch nicht.
Victor wollte den Ãberblick behalten.
Er atmete immer schneller, weil der Körper versuchte, das Kohlenmonoxid loszuwerden, um die Ãbersäuerung des Blutes zu verhindern.
Victor blieb nicht mehr viel Zeit.
Einige Geschäftspartner statteten ihm einen letzten Besuch ab. Victor trug Grace auf, nur wenige Leute zu empfangen. Er sagte ihr, er fühle sich auÃerstande, unentwegt Abschied zu nehmen.
Das stimmte zwar, aber Victor hatte nicht das Gefühl, überhaupt wegzugehen.
Die letzten Wochen anderer Sterbender sind für gewöhnlich von Ãngsten und letzten Ritualen geprägt; Victor dagegen war damit beschäftigt, sein lediglich vorübergehendes Verschwinden aus dieser Welt zu planen. Und in diesem Plan war folgender Schritt enthalten:
An Silvester nahmen Victor und Grace gewöhnlich an einer Gala teil, bei der sie ihrer Wohltätigkeitsorganisation eine groÃe Geldsumme spendeten, deren Höhe jeweils Rückschlüsse auf Victors Bilanzen in diesem Jahr zulieÃ.
»Du solltest hingehen, Grace«, hatte Victor am Vortag zu seiner Frau gesagt.
»Nein, das werde ich nicht tun.«
»Du musst den Scheck überreichen.«
»Ich werde dich nicht alleine lassen.«
»Es ist aber sehr wichtig, dass diese Geste nicht ausfällt.«
»Das kann auch jemand anderer für uns übernehmen.«
Victor behalf sich ein weiteres Mal mit einer Lüge.
»Mir würde aber viel daran liegen.«
»Warum?«, fragte Grace überrascht.
»Weil ich mir wünsche, dass diese Tradition erhalten bleibt. Ich möchte, dass du das dieses und nächstes Jahr und hoffentlich noch viele weitere Jahre machst: zur Gala gehen und den Scheck überreichen.«
Grace zögerte.
Die Gala war ursprünglich ihre Idee gewesen, doch Victor hatte nie Wert darauf gelegt und sich früher sogar darüber geärgert, dass er mitkommen musste.
Nun fragte sich Grace, ob er sich auf diese Weise für sein Verhalten entschuldigen wollte.
»Na schön«, sagte sie. »Ich geh hin.«
Er nickte, sichtlich erleichtert. »Alle werden froh darüber sein.«
59
Um zwei Uhr mittags wachte Sarah auf, weil ihre Mutter an die Tür hämmerte.
»Sarah!«
»⦠Was ist?«
» Sarah ! «
»Ich bin schon auf!«
»Ich klopfe hier seit fünf Minuten!«
»Ich hatte Kopfhörer auf!«
»Was ist los mit dir?«
»Nichts!«
»Sarah!«
»Lass mich in Ruhe!«
Sarah hörte, wie ihre Mutter wegging, und sank stöhnend auf ihr Kissen zurück. Ihr Kopf schmerzte, und ihr Mund war ausgetrocknet. Zum Glück war Sarah alleine gewesen, als sie am Vorabend zurückgekommen war, und sie hatte sich schnell zwei Schlaftabletten aus dem Vorrat ihrer Mutter genommen und dann die Zimmertür abgeschlossen. Jetzt drehte sie sich auf die Seite, und die Erinnerungen brachen über sie herein.
Ethans Worte und ihre eigenen.
Als Sarah das Geschenk auf dem Stuhl liegen sah, begann sie zu weinen. Sie warf es an die Wand und lieà ihren Tränen freien Lauf.
Vor ihrem inneren Auge sah sie Ethan weggehen und fühlte sich vollkommen hilflos. Es durfte einfach nicht vorbei sein. Es konnte nicht sein, dass sie ihn nie wiedersehen würde. Sie musste irgendetwas tun â¦
Schreiben !
Sie konnte ihm schreiben. Alles zurücknehmen. Sich entschuldigen. Sagen, dass das Geschenk nur ein Witz sein sollte. Dass sie betrunken gewesen sei. Probleme mit ihrer Mutter. Oder etwas in der Art.
Beim Schreiben konnte sie sich besser ausdrücken. Da würde sie nicht irgendeinen Quatsch herausposaunen, der ihn erschreckte.
Sarah trocknete ihre Tränen.
Setzte sich an den Schreibtisch.
Eine SMS würde sie nicht schreiben.
Diese Worte sollten nicht auf seinem Handy landen. Aber sie konnte ihm auf Facebook eine persönliche Nachricht schicken. Sie umklammerte die Tischkante und überlegte.
Am besten wäre es wohl, mit »Es tut
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