Der Stundenzaehler
gefiel.
Sarah warf einen Blick auf die Gruppe, die sich wegen des Weltuntergangs versammelt hatte. Einige hielten Schilder hoch, andere trugen religiöse Kleidung. Auf einem Tisch stand eine Anlage, aus deren Lautsprechern ein Song ertönte:
Warum scheint die Sonne noch?
Warum rauscht das Meer?
Es ist doch das Ende der Welt,
Denn du liebst mich nicht mehr.
Wie deprimierend , dachte sie. Und irgendwie zynisch zu diesem Anlass . Dennoch war die Stimme der Sängerin so traurig und wehmütig, dass Sarah sich nicht lösen konnte.
Warum zwitschern Vögel noch?
Warum glitzern Sterne am Himmel hoch?
Es ist doch das Ende der Welt.
Sarah nahm ein Flugblatt von dem Tisch. »Das Ende naht. Was tust du mit der Zeit, die dir bleibt?«, stand darauf.
Es war erst Mittwoch.
Sarah nahm sich vor, noch ein oder zwei Pfund abzunehmen.
54
Grace wartete darauf, dass Victor nach Hause kam.
Sie trocknete ihre Tränen und schnitt das Gemüse.
Lorraine wartete darauf, dass Sarah nach Hause kam.
Sie staubsaugte und rauchte eine Zigarette.
Dies wird in Kürze geschehen.
Alle Menschen auf diesem Planeten â auch Grace, Lorraine, Victor und Sarah â werden ab sofort nicht mehr älter werden.
Nur ein einziger Mensch wird damit beginnen.
Loslassen
55
Victor hatte seine Hausaufgaben gemacht. Er wusste, wie sein Sterben ablaufen würde.
Nachdem er die Dialyse aufgegeben hatte, erhöhte sich sein Blutdruck, er wurde schwammig, sein Rücken schmerzte, und er hatte keinen Appetit mehr.
Mit diesen Folgen hatte Victor gerechnet, und er zwang sich, Brot, Suppe und Trinknahrung zu sich zu nehmen, damit sein Verfall nicht zu schnell voranschritt.
An Weihnachten konnte er nicht mehr im Rollstuhl sitzen und lag nur noch in einem Bett im Wohnzimmer. Grace blieb die ganze Nacht bei ihm und schlief auf einer Couch. Da sie die Wahrheit nicht kannte, hatte sie seinen Plan akzeptiert, weil sie glaubte, es sei Gottes Wille, dass sie Victor jetzt loslieÃ. Wenn Victor damit einverstanden war, wollte sie es auch sein.
Dennoch kämpfte sie mit den Tränen, als Victor Roger am nächsten Morgen bat, ihm bestimmte Akten zu bringen.
Nun sei nicht böse auf ihn , sagte sie sich, als sie Victor ein Glas Wasser mit einem Strohhalm reichte, so hält er an seinem alten Leben fest. Seine Akten, seine Unternehmen â das macht ihn aus.
Sie konnte nicht wissen, dass es in diesen Dokumenten um die Erhaltung von Victors Wirtschaftsimperium in der Zukunft ging.
Victor wollte das Glas selbst halten und trank ein paar Schlucke. Dann stellte er es beiseite. Als er die Sorge in Graceâ Blick bemerkte, sagte er:
»Es ist in Ordnung, Grace. Es soll so sein.«
Aber im Weltenplan war das nicht so vorgesehen â¦
⦠Es war nicht vorgesehen, dass man sich einfrieren lieÃ, um ein zweites Leben zu erlangen. Doch Victor war entschlossen, sein Sterben genauso gezielt zu gestalten, wie er sein Leben gestaltet hatte.
Die Taubheit in Händen und FüÃen? Die graue Hautfarbe?
Symptome des terminalen Nierenversagens.
Man rechnete mit dem Tod.
Doch niemand hätte vermutet, dass Victor einen anderen Plan hatte â sich vor seinem Tod einfrieren zu lassen.
Dabei würden Roger, Jed sowie ein speziell ausgesuchter Arzt und ein Gerichtsmediziner zugegen sein, die für ihr Stillschweigen groÃzügig entlohnt wurden.
In den Papieren würde der Tod vermerkt sein.
Der Victor aber niemals ereilen würde.
Denn er würde ihm entkommen. Und in ein Boot in die Zukunft steigen.
»Hör zu, Grace«, sagte Victor mit rauer Stimme. »Ich weiÃ, wie schwer diese Zeit für dich war. Aber ich habe für alles vorgesorgt. Alle Papiere, meine ich. Roger kann es mit dir durchgehen. Das Wichtigste ist â¦Â«
Er suchte nach den richtigen Worten.
»Das Wichtigste ist, dass du dir um nichts Sorgen machen musst.«
Tränen traten ihr in die Augen.
»Ich habe mir nie Sorgen gemacht«, erwiderte Grace.
Sie nahm seine Hand und streichelte sie.
»Ich werde dich vermissen, weiÃt du.«
Er nickte.
»Du wirst mir sehr fehlen«, sagte Grace.
Beide pressten die Lippen zusammen, und Victor schluckte schwer.
In diesem Augenblick hätte er beinahe alles gestanden. Doch entweder nutzt man den Augenblick, oder man lässt ihn verstreichen.
Victor lieà ihn verstreichen.
»Du mir auch«, sagte er.
56
Sarah glaubte, dass Ethan der einzige Junge war, den sie
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