Der Stundenzaehler
mir leid« anzufangen und dann zu erklären, dass sie seine Reaktion gut verstand, dass sie sich in etwas hineingesteigert hatte und â was auch immer, Hauptsache, sie nahm sich selbst nicht zu ernst, dann würde er das bestimmt auch nicht tun.
Sarah schaltete ihren Laptop ein.
Der Bildschirm erwachte zum Leben.
In früherer Zeit schrieben Liebende mit Tinte auf Pergament.
Schrieben Worte für die Ewigkeit.
Sie lieÃen sich einen ganzen Abend Zeit, um ihre Worte wohl abzuwägen, und vielleicht sogar noch einen zweiten Abend. Bevor sie ihren Brief versandten, schrieben sie Namen und Adresse darauf und versahen ihn mit Wachs und ihrem persönlichen Siegel.
Jene Welt kannte Sarah nicht mehr.
In ihrer Zeit beherrschte die Geschwindigkeit die Qualität der Worte. Schnelligkeit war erstes Gebot. Hätte sie in einer früheren langsameren Epoche gelebt, wäre das, was nun passierte, nicht geschehen. Doch Sarah lebte in dieser Welt.
Und es geschah.
Sie rief Ethans Facebook-Seite auf.
Sah sein Profilbild: die kaffeebraunen Haare, den schläfrigen Blick, das leicht amüsierte Grinsen. Doch bevor sie ihre Nachricht schrieb, las sie unwillkürlich seinen letzten Post. Sie blinzelte. Tränen stiegen ihr in die Augen, und ihr wurde übel. Zweimal las sie, was da stand. Dreimal. Viermal.
» Von Sarah Lemon angemacht worden. Whoa. Geht gar nich. Kommt davon, wenn man zu nett ist.«
Sarah wurde die Kehle eng. Sie konnte nicht mehr schlucken, nicht mehr atmen. Wäre in ihrem Zimmer ein Feuer ausgebrochen, dann wäre sie verbrannt, denn sie konnte sich nicht mehr bewegen. Ihr Magen krampfte sich zusammen.
» Von Sarah Lemon angemacht worden.«
Ihr Name stand an dieser Pinnwand.
»Whoa. Geht gar nich.«
Als sei sie eine lästige Katze, die ihm um die Beine strich.
» Kommt davon, wenn man zu nett ist.«
Das war alles? Er war einfach nur nett zu ihr gewesen?
Sie zitterte. Keuchte. Unter diesem Post hatten reihenweise andere Leute Kommentare hinterlassen.
» Nich dein Ernst!«
»Du und Sarah â krass!«
»Was stimmt mit der nich?«
»Zu groÃer Arsch, Bro.«
»Schlampe, klarer Fall.«
»Renn, Digger!«
Es war wie in einem dieser Alpträume, in denen man nackt auf einer Bühne steht und von wildfremden Menschen angestarrt wird: Ethan hatte sich allen offenbart, nun wurde er von allen bemitleidet. Und Sarah Lemon war für immer und ewig (denn alles im Netz war doch sofort für die Ewigkeit, oder?) â auf jeden Fall war Sarah jetzt also jemand, zu dem man nett sein musste. Eine klägliche Gestalt, die nichts kapierte. Der Schrecken ihrer Altersgenossen. Das Allerletzte. Ein totales »Opfer«.
» Von Sarah Lemon angemacht worden. «
Wie bitte? Sie hatte ihn angemacht?
Aber er hatte sie doch zuerst geküsst?
» Whoa. Läuft nicht.«
War sie wirklich so abstoÃend?
» Kommt davon, wenn man zu nett ist.«
Hatte er sich aus Mitleid mit ihr getroffen? Der Schöne und das Biest?
» Ist das nicht die KlugscheiÃerin?«
»Zu Psychos nett sein bringt immer Stress.«
»Die hat voll den Hau.«
»Dumm gelaufen, Ethan.«
Sarah knallte ihren Laptop zu. Ihr Atem dröhnte in ihren Ohren â keuch, keuch, keuch .
Sie rannte nach unten, zur Tür hinaus. Die Gesichter neben den Kommentaren kreisten in ihrem Kopf, lachten höhnisch über sie, lösten Erinnerungen an frühere Demütigungen aus.
Jetzt war sie wieder die fette Sarah, die nach Hause rannte, nachdem ein Mädchen sich über sie lustig gemacht hatte.
Das Mädchen, das so wenig liebenswert war, dass sein Vater es nach der Scheidung nicht zu sich nehmen wollte.
Der Bücherwurm, der im Lunchraum alleine in der Ecke hockte und in einem Biobuch las.
Und nun war sie auch noch eine geisteskranke Stalkerin, ein Post auf Ethans Facebook-Seite, ein Witz im Internet.
Es schneite, und Sarah rannte, am ganzen Körper zitternd, durch den Schnee. Tränen strömten ihr übers Gesicht und gefroren auf ihren Wangen.
Es gab niemanden, mit dem sie sprechen konnte.
Niemanden, der sie trösten würde.
Nur Dunkelheit und Einsamkeit, und sie würde niemals mehr in diese Schule gehen.
Was sollte sie nur tun?
Was sollte sie nur tun?
Da kam ihr der Gedanke, sich umzubringen.
Und schon begann sie, über den Zeitpunkt nachzudenken. Und wie sie es machen wollte.
Den Anlass dafür hatte sie ja
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