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Der Sturm

Der Sturm

Titel: Der Sturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Johansson
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»dunk«. Es wird jetzt wohl nicht mehr lange dauern, bis der erste Wagen die Hauptstraße hinunterrollt: ein offener Lastwagenanhänger, von einem Traktor gezogen, geschmückt mit grünem Birkenreisig und behängt mit bunten Ballons. Bei diesem Wetter.
    Auf der Stereoanlage lief »Cold Irons Bound« ein später Dylan: »I’m beginning to hear voices and there’s now one around«, krächzte die alt, brüchig und tief gewordene Stimme des Sängers. Offenbar näherte sich der Umzugswagen, das »Dunk«, »Dunk«, »Dunk« wurde lauter. Menschenleer war der Platz vor Ronnys Fenster, der Kiosk leuchtete sinnlos im Regen, nur selten fuhr ein Auto vorbei. Und was für einen jämmerlichen Anblick der Umzugswagen bot, als er endlich hinter dem Gebäude der Gemeindeverwaltung hervorkam. Zwei Dutzend junge Leute standen darauf herum, Gymnasiasten, die gerade ihren Schulabschluss gemacht hatten und jetzt symbolisch hinausziehen wollten in die große Welt. Bis auf die Haut durchnässt standen sie jetzt da unter ihren weißen Studentenmützen mit den schwarzen Schirmen, die jungen Männer in ihren dunklen Anzügen und Krawatten, die jungen Frauen halbnackt in ihren weißen Kleidern. Sie froren. Sie hielten sich aneinander fest. Sie versuchten, sich ein wenig im Takt der Musik zu bewegen, ein bisschen Ausgelassenheit entstehen zu lassen, und für einen Augenblick war sogar das Lied zu hören, das alle Abiturienten an diesem Tag sangen, seit vielen, vielen Jahren: »Den ljusnande framtid är vår«, »die aufleuchtende Zukunft ist unser«. Aber wie kläglich das Lied jetzt klang, und beim übernächsten Vers brach der Gesang in sich zusammen: »hoppet är vår vän och vi dess löften tro« – »die Hoffnung ist unser Freund, und seinen Versprechen glauben wir«. Jeder von ihnen, das war deutlich zu sehen, wäre jetzt lieber zu Hause gewesen, in einem alten, dicken Trainingsanzug vor dem Computer oder vor dem Fernseher, mit einer Tasse heißem Kakao in der Hand. Aber dieser Tag sollte doch der fröhlichste von allen Tagen sein, der Tag der Befreiung von der Schule.
    Das Mobiltelefon klingelte. Leif Karlsson, der Kollege aus Hässleholm mit den guten Beziehungen zur Polizei, war am Apparat. »Bist du beschäftigt?«, fragte er geradeheraus.
    »Ich schau mir gerade den Umzug der zukünftigen Studenten an, aber das Wetter ist so schlecht«, antwortete Ronny, »wir wollen ja eine Seite mit Bildern aus allen Städten der Region machen.«
    »Ich weiß. Dann mach schnell ein Bild und fahr dann nach Älmhult. Das gehört zwar nicht mehr zu unserem Gebiet, aber die Leute werden es trotzdem wissen wollen: Da hängt ein Gymnasiast an dem großen Stuhl in der Einfahrt von der E  23 , mit Studentenmütze und allem Drum und Dran. Du kennst diesen Stuhl ja, dieses sogenannte Kunstwerk. Der Junge ist tot. So, wie es aussieht, hat er sich vermutlich selber aufgehängt, aber man weiß ja nie.«
    »Du machst Witze. An dem Stuhl?«
    »Nein, trödle nicht herum. Mach dich auf den Weg. Wenn du Glück hast, ist die Polizei noch dort. Die erste Meldung kam schon vor einer Stunde.«
    Ronny kannte Älmhult. Alle kannten Älmhult, und viele kannten den Stuhl, von dem Leif Karlsson sprach. Dreißig Kilometer nördlich von Osby lag diese kleine Stadt, nicht mehr in Schonen, sondern in Småland, und weltberühmt war sie, weil Ingvar Kamprad hier das erste Ikea-Warenhaus gegründet hatte, im Jahr 1958 . Hier in der Gegend, mitten in einem Wald, in dem sich lauter Schreinereien verbargen, war er aufgewachsen, und an diese Herkunft erinnerte seit ein paar Jahren der gigantische Stuhl aus bunten Fichtenstämmen, den der Künstler Kaj Engström im Auftrag der Kommune an die Kreuzung gestellt hatte, wo man die E  23 verlassen musste, um in die Stadt zu kommen. Ein Kunstwerk war das tatsächlich, jedenfalls fand Ronny es gar nicht so schlecht. Es war wenigstens eines von der witzigen Sorte.
    Für zwei Minuten war Ronny aus dem Haus getreten, um eine Fotografie von den nassen, frierenden Gymnasiasten auf ihrem Anhänger zu machen, zwei Minuten, um wenigstens ein oder zwei lächelnde Gesichter festzuhalten, und als er sie gefunden hatte, kehrte er sofort um und schickte sie per E-Mail an die Redaktion. Dann setzte er sich in seinen Toyota und fuhr aus der Stadt heraus, nach Norden, auf die Reichsstraße. Kaum, dass er etwas von der Straße vor sich sah. Die Scheibenwischer seines alten Autos waren dem Regen und der Gischt, die andere Fahrzeuge hinter sich

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