Der Sturm
einen Boss. Klingt das nicht albern?«
»Du bist so ernst, neuerdings.« Benigna schaute ihre Tochter an.
»Wie soll ich denn anders sein?«, antwortete Katarina und blickte auf die Sitzordnung.
»Als ich die Schule verließ, war das nicht so«, sagte Benigna, »da gab es keine Krawatten und keine langen Kleider.«
»Davon erzählst du besser nicht, heute Abend, wenn andere dabei sind«, antwortete ihre Tochter. »Das ist jetzt nur noch peinlich.«
Ein junger Mann hatte neben der Bühne Lautsprecher und ein Mischpult installiert. »Eins, zwei«, rief er in ein Mikrophon, »eins, zwei, drei, vier.« Zufrieden damit, dass die Verstärkeranlage funktionierte, schaltete er auf P3, den nationalen Unterhaltungssender im Rundfunk. »The Edge of Glory« sang Lady Gaga, und es folgte »Innan gryningen är här« von Inga Lisa Rypdal, »bevor das Morgengrauen kommt«, ein altes Lied und eine Orgie des Gefühls. »Något har hänt, någon jag känt« – »Etwas ist geschehen, niemand hat es gesehen«, sang die Norwegerin. Das Lied war schlimmer Kitsch. Benigna sah verwundert, dass ihre Tochter mit den Tränen kämpfte.
Benigna schien noch zu grübeln, als die Vierzehn-Uhr-Nachrichten das Musikprogramm unterbrachen. »Die Weltwirtschaft stand offenbar im September 2008 weitaus knapper vor einem totalen Zusammenbruch, als bislang bekannt war. Dies zeigen geheime Dokumente, die heute Morgen auf der Internet-Seite der sogenannten ›Freibeuter‹ veröffentlicht wurden. Bei den ›Freibeutern‹ handelt es sich um eine neue politische Gruppierung, die, nach eigenen Angaben, für eine Befreiung von Staat und Gesellschaft von der Macht der Banken kämpfen will.« Benigna horchte auf. »Ersten Informationen zufolge stand die globale Ökonomie am 15 . und 16 . September 2008 unmittelbar vor einem Kollaps des gesamten internationalen Zahlungsverkehrs. Nachdem die amerikanische Bank ›Lehman Brothers‹ in die Insolvenz gegangen war, hatten sich offenbar einige der größten Geldhäuser der Welt grundsätzlich geweigert, Transferleistungen vorzufinanzieren. Davon betroffen gewesen wäre auch jede Form von Überweisung. Wäre diese Weigerung vollzogen worden, wäre auch der Bezug von Bargeld durch Bankautomaten nicht mehr möglich gewesen. Mehr dazu in unserer Sondersendung nach diesen Nachrichten.«
Ein Lieferwagen mit der Aufschrift »Olssons Catering« kam auf den Hof gefahren. Der Fahrer stieg aus, ein kleiner, faltiger Mann in einem weißen Kittel. Er hielt direkt auf Benigna zu und sprach sie im breiten Dialekt Schonens an: »Ich habe das Geschirr im Auto und die Getränke. Hast du jemanden, der mir beim Ausladen helfen kann?« Benigna ging zurück in die Scheune und rief den jungen Mann herunter, der noch immer mit den Girlanden beschäftigt war. Im Radio hörte sie, wie der Sprecher von einem totalen Verlust des Vertrauens zwischen den Banken redete, von den zunächst fruchtlosen Interventionen der Politiker. Die Katastrophe sei erst verhindert worden, so der Sprecher, nachdem die Regierungen einiger großer Staaten in einer geheimen, konzertierten Aktion eine bedingungslose Garantie für die Zahlungsfähigkeit aller Banken gegeben hatten.
»Wir schalten jetzt Wilhelm af Sthen dazu«, sagte der Moderator, »den Sprecher der ›Freibeuter‹. Sie haben die Protokolle dieser Verhandlungen, zusammen mit einer großen Zahl von anderen Dokumenten, heute Morgen ins Internet gestellt. Wilhelm, woher kommen diese Daten?«
»Das werde ich nicht sagen«, antwortete Wilhelm af Sthen in seiner schneidigen, überdeutlichen Sprache, der man eine lange Übung im Befehlen anhörte, »und es spielt auch keine Rolle. Viel wichtiger ist, was diese Dokumente zeigen: Sie offenbaren nämlich, dass es vor nicht allzu langer Zeit einen Punkt gab, an dem das Geld kein Geld mehr war. Es gab keine Dollars mehr, keine Euros und keine Kronen, nur noch leere Zahlen und Symbole. Es hätte nicht viel gefehlt, und wir hätten zum Automaten gehen können, und da wäre nichts mehr gewesen. Wozu auch? Das Geld war wertlos, auf der ganzen Welt, weil es aufgehört hatte zu zirkulieren. Und dann kamen die Staaten, in einer Aktion, wie es sie noch nie gegeben hatte, und stellten das Geld wieder her, durch einen Akt schierer Gewalt. Die Folgen werden uns noch Jahrzehnte begleiten.«
»Welche Folgen?«
»Die Staaten haben mit dieser Aktion eine grenzenlose Bürgschaft für die Banken übernommen. Und diese muss bezahlt werden. Und sie wird bezahlt. Aber
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