Der Sturm
Todes fragen. Ob es wirklich ein Selbstmord sei. Ob man sich einen Mord vorstellen könne. Auf Norra Torggatan fand er ein Café, setzte sich an einen leeren Tisch und packte seinen MacBook aus. »Gellende Schreie drangen aus dem Schulbus, als er am Freitagmorgen an dem bekannten Stuhl-Denkmal an der Ortseinfahrt von Älmhult vorbeifuhr«, lautete der erste Satz in seinem Artikel. »Aufgeregt zeigten die Kinder mit ihren kleinen Händen hinauf.« Dieses Mal, dachte er, werde er so lebendig schreiben, so ergreifend, dass er den Text nicht zur Überarbeitung zurückbekam.
Eine gute Stunde später rief Ronny in der Polizeistation an Södra Esplanaden an. Nein, antwortete ihm ein freundlicher Polizist. Man könne ihm nicht sagen, wie der Tote heiße. Aber er sei Schüler hier in der Stadt gewesen, an der Internationalen Schule. Die gebe es hier, wegen Ikea. Da arbeiteten viele Ausländer, vor allem im Management. Man gehe nicht von Fremdeinwirkung aus. Und, ja, man habe etwas gefunden, das vielleicht ein Abschiedsbrief sei, aber über den Inhalt könne man natürlich nichts sagen. »Verlass dich darauf«, sagte der Polizist, »Älmhult ist eine kleine Stadt, und Gerüchte machen schnell die Runde.« Ronny fügte die letzten Informationen ein und schickte den Artikel per Mail an die Zentralredaktion.
Der Regen hatte nachgelassen, als Ronny nach Osby zurückfuhr. Auch der Wind war nicht mehr da. »I’m beginning to hear voices and there’s no one around«: Bob Dylan war wieder da, als Endlosschleife im Kopf. Und das Mobiltelefon klingelte auch schon wieder.
»Du sollst den ganzen Anfang des Artikels noch einmal schreiben«, meldete Leif Karlsson, »der Chef ist richtig sauer. Du hattest die Aufgabe, eine Reportage zu schreiben und keinen Trivialroman, sagt er. Er hat den Anfang deines Artikels laut vorgelesen, in der großen Runde, und gesagt, das sei ja wie in Hollywood, C-Klasse, wie das ›Monster aus dem Sumpf‹ oder so. Wir sind aber eine seriöse Zeitung, sagte er. Die Kollegen haben sich fast totgelacht.« Ronny saß in seinem Auto und hatte das Gefühl, zu schrumpfen. Eisern fuhr er weiter.
Fünfundzwanzig
Das Wetter war besser geworden. Der stürmische Regen vom Vormittag hatte sich verzogen, und es war beinahe schön, wenngleich es kühl geblieben war. Auch der Wind hatte sich beruhigt. Benigna Klint und ihre Tochter Katarina standen in einer der beiden Scheunen ihres Herrenhofs, einem Bau von den Ausmaßen einer Kathedrale, unten aus fest gefügten Feldsteinen, oben aus Holz. Im hinteren Teil hatten früher die Kühe gestanden. Die Boxen und Koben, die Tröge und Güllerinnen sahen aus, als wären sie von einem Tag auf den anderen aufgegeben worden – was tatsächlich so gewesen war, denn als der Mann von der Tierschutzbehörde in Kristianstad Benigna kurz nach dem Beitritt Schwedens zur Europäischen Union mitgeteilt hatte, die Rinderboxen entsprächen jetzt nicht mehr den europäischen Normen, da fehlten fünf Zentimeter, da müsse man umbauen, hatte sie die Tiere verkauft und einen Arbeiter entlassen, der seit dreißig Jahren bei ihrer Familie gewesen war. Vorne, in der großen Halle, wo früher das Kraftfutter gelagert worden war, wo die Mühle und die Traktoren gestanden hatten, war nun geräumt und gefegt worden. Lange Tische waren in der Mitte aufgestellt, mit Platz für mindestens hundert Menschen. Auf der kurzen Seite der Scheune war eine Bühne errichtet worden, ein junger Mann turnte über das Gebälk unter dem Dach – in alten Zeiten war dort das Heu verwahrt worden – und hängte Leuchten und Papiergirlanden auf. Auf einer Sackkarre wurde ein großer Kühlschrank in den ehemaligen Kuhstall gerollt.
Benigna und ihre Tochter standen an einem der Tische und schauten auf ein paar Bögen Papier, die nebeneinander gelegt waren. »Doch«, sagte Katarina, »wir brauchen eine Sitzordnung, für den Anfang. Sonst sitzen die Jungen auf der einen und die Mädchen auf der anderen Seite.«
»Sollte man nicht wenigstens uns Alte zusammentun, Wille zum Beispiel, und mich?«
»Kommt gar nicht in Frage. Das soll ein erwachsenes Fest werden, keine Party. Ausgelassen wird es sowieso noch, später, dann musst du ja nicht mehr mitmachen. Zuerst aber soll es schön sein, richtig fein, und du wirst irgendwo in der Mitte sitzen. Einige von den Mädchen haben sich neue Kleider gekauft, das weiß ich, richtige Festkleider. Und die Jungen kommen mit Anzug und Krawatte. Auch Magnus hat sich einen Anzug gekauft,
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