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Der Sturm

Der Sturm

Titel: Der Sturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Johansson
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herum –, »Sie reden von Zukunft und Verantwortung. Es wird Zeit, dass Sie einmal tatsächlich Verantwortung übernehmen. Denn dass das Schicksal der Menschen auf der ganzen Welt, dass Leben und Sterben, Hungern und Prassen heute von den Banken entschieden wird, von Wechselkursen, von den Spekulationen der Hedgefonds – dafür haben Sie gesorgt!«
    Zur Überraschung aller Anwesenden reagierte Randall Brubaker milde auf die Anschuldigungen, versuchte eine historische Erklärung, verwies auf die Schwierigkeit, die Interessen vieler Staaten zu einem Beschluss zu vereinen. Der junge Mann aber redete sich immer weiter in Rage, sprach von der Gier, eine Rendite von fünfundzwanzig Prozent zu erwirtschaften, derentwegen Millionen von Menschen ihre Arbeit und ihre Häuser verloren hätten, führte die Kriege der vergangenen Jahre ins Feld, die ganze Volkswirtschaften vernichtet hätten.
    »Und denken Sie daran, wie nah die Weltwirtschaft schon am Kollaps war, als die Lehman Brothers zusammenbrachen. Wir haben die Dokumente, wir haben sie alle ins Netz gestellt«, rief eine Frau dazwischen, die offenbar zu den »Freibeutern« gehörte und sich vom Pathos des jungen Mannes hatte anstecken lassen.
    Und während Menschen aus dem Publikum versuchten, die Diskussion wieder sachlich werden zu lassen, und gar den jungen Mann auf seinen Stuhl zurückdrängten, geschah das Erstaunliche: Randall Brubaker, der Mann, der hinter dem Präsidenten der Vereinigten Staaten gestanden, der Tausende von Diskussionen überlebt, der sich in Debatten und Kampagnen bewährt hatte, sank in sich zusammen. Als er dann noch einmal das Mikrophon ergriff, mit beiden Händen, wirkte er nur noch alt und schwach.
    »Ich weiß nicht, wer Sie sind und wie Sie heißen«, sagte er zu dem jungen Mann. »Aber Sie haben recht, you are perfectly right. Ich weiß nicht, was geschieht. Ich werde von Ereignissen überrascht, die die Grundlagen unserer Gesellschaft und unserer Wirtschaft erschüttern, immer wieder, so wie alle anderen auch. Ich weiß nicht mehr weiter, ich weiß nicht mehr weiter.« Randall Brubaker sprach jetzt sehr langsam, leise und undeutlich. Die Hände hatte er, aufgespreizt, an seine Schläfen gelegt.
    Ein betretenes Schweigen ging durch das Publikum, und es dauerte lange, bis sich die ersten Gäste erhoben und ein wenig wirr im Saal umherschauten. Auch der Gastgeber schien sich sammeln zu müssen, bevor er den Satz herausbekam, man treffe sich in einer halben Stunde im Festzelt. Als aber die Gesellschaft aus der ehemaligen Reithalle heraustrat, wurde sie vom schönsten Spätsommerabend empfangen – die untergehende Sonne hatte im Westen einen orangevioletten Glanz hinterlassen, der ganz allmählich in einen tiefblauen Nachthimmel überging. In den Tagen zuvor war das letzte Heu des Jahres gemäht worden, der Geruch frisch getrockneten Grases hing in der Luft. Ein Kauz rief im nahen Wald. Eine seltsame Bewegung erfasste die Gesellschaft: Es war, als wäre sie aus einem Albtraum geweckt worden. Und als der erste Wein serviert wurde, ein Sancerre, der den Hummer in Kürbissuppe begleiten sollte, begann plötzlich ein merkwürdig aufgeregtes Reden, das bald in eine fast schrille Heiterkeit überging.
    Ronny hatte sich zusammen mit Lorenz in eine Ecke des Zelts zurückgezogen, so weit hinten, wie es nur ging. Aus ihrem Winkel sahen sie, wie Benigna den jungen Mann vom Zeltplatz zu betören suchte, wie Randall Brubaker ein Glas Wein nach dem anderen in sich hineinstürzte, wie Chantal Laforge, eine feingliedrige, weißhaarige Dame, den jüngsten Tratsch aus der Europäischen Zentralbank mehreren Experten ausplauderte, die sich köstlich amüsierten, und wie Richard einem Mephisto ähnlich durch die Bankreihen strich. Nur Katarina blieb für sich, unterhielt sich immer nur kurz mit vorbeiziehenden Gästen und ging früh. Kein Mann hatte sie anzusprechen gewagt.
    »Beyond here lies nothin’«, sagte Ronny.
    »Wie?«
    »Ein Song von Bob Dylan: ›Nothin’ done and nothin’ said.‹«
    »Verstehe. Du meinst: Was haben die alle heute Abend eigentlich gesagt? Es ist doch eigentlich ganz sinnlos, dass all diese Menschen hier das Beste vortragen, das sie sich ausdenken können, während doch sowieso passiert, was passiert.«
    »So ungefähr. Lass uns bald gehen.«
    Was dann noch an diesem Abend geschah, in welchen Ausschweifungen dieses Fest endete, darüber waren am nächsten Tag – und auch später – nur ein paar Andeutungen zu hören. Sie

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