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Der Sturm aus dem Nichts

Der Sturm aus dem Nichts

Titel: Der Sturm aus dem Nichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James G. Ballard
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an. Dann ballte er die Faust und schlug sich vor die Stirn.
    »Deborah, geben Sie das sofort an alle Rettungseinheiten weiter! Etwa vierhundert waren in der Station Andrew? Mein Gott, was wollten die da? Auf einen Zug werden sie wohl kaum gewartet haben!«
    Symington machte eine hilflose Geste. »Ich nehme an, sie haben dort Schutz gesucht.«
    Voller Verzweiflung schrie Marshall: »Aber das ist genau das, was sie nicht tun sollen! Sie sollten oben sein und ihre Häuser befestigen, statt sie einfach zu verlassen und sich zu verkriechen wie eine Herde Schafe.«
    Symington lächelte dünn. »Die Häuser in Bloomsbury und rund um den Russell Square sind ziemlich baufällig, Sir. Abbruchreif. Ganze Familien wohnen in einem Zimmer ...«
    »Mir ist egal, wo sie wohnen!« unterbrach ihn Marshall. »In dieser Stadt leben über acht Millionen Menschen und sie müssen diesem Sturm geschlossen entgegentreten. Wenn sie einmal anfangen, nur noch an sich selbst zu denken und an ein Loch, um sich darin zu verkriechen, dann wird diese ganze, verdammte Stadt zum Trümmerhaufen.«
    Er stürmte in sein Büro. »Rufen Sie die Transportabteilung an«, rief er Deborah zu. »Ich brauche einen Wagen. Wir wollen uns das mal selbst ansehen da draußen.«
    Er nahm einen schweren Trenchcoat vom Haken an der Tür und zog ihn über, während Deborah ans Telefon eilte. Dann ging er mit langen Schritten den Flur hinunter. Deborah folgte ihm.
    Die OZ befand sich im zweiten Stock des Admiralitätsgebäudes, eines Irrgartens voller winziger Büros an engen, hohen Korridoren. Sie gingen an der Überseeabteilung vorbei bis in einen großen Raum, in dem Dutzende von Fernschreibern einen endlosen Strom von Nachrichten aus allen Großstädten des Landes ausspien, wo auf Monitoren von über ganz London verteilten Übertragungswagen gesendete Bilder flimmerten und drei Techniker direkte Verbindung mit der Stadtverwaltung hielten.
    »Wie steht's mit den Verlusten am Russell Square?« fragte Marshall einen jungen Leutnant, der am Schreibtisch vor einem Monitor saß, den Bildschirm beobachtete und dabei hastig in ein Mikrophon hineinsprach.
    »Ziemlich schwer, fürchte ich, Sir. Mindestens vierhundert Tote. Das Licht in der U-Bahn-Station ist ausgefallen, und man wartet auf den Generator des RASC, der vom Liverpool-Bahnhof hingebracht werden soll.«
    Das Bild auf dem Schirm war undeutlich und verzerrt, doch Marshall erkannte die dicken Lichtbalken der Suchscheinwerfer, die über die gezackte Silhouette der Hotelruine hinwegtasteten. Die zehn Etagen des Hotels waren jetzt nur noch so hoch wie sonst drei; viele Fenster und Balkone schienen intakt zu sein, doch bei näherem Hinsehen entdeckte man, daß die Stockwerke nur noch drei, vier Fuß hoch waren statt, wie früher, zwölf.
    Marshall nahm Deborah am Arm und führte sie auf den Flur hinaus. Sie stiegen ins Erdgeschoß hinunter. Das Gebäude besaß einen eigenen Generator, doch der reichte nicht aus für den Betrieb eines Lifts.
    Alle Fenster, an denen sie vorbeikamen, waren fest vernagelt. Außen war das Haus von einem zehn Fuß dicken Wall von fest miteinander verbundenen Sandsäcken geschützt, der bis zum Dach reichte. Trotzdem spürte Deborah plötzlich, daß die Mauern erzitterten, als sie von einer kräftigen Druckwelle getroffen wurden. Sie zuckte zusammen, blieb einen Moment stehen und drängte sich schutzsuchend an Marshall. Er legte ihr den Arm um die Schultern und lächelte ihr beruhigend zu.
    »Alles okay, Deborah?« Durch den Stoff der Jacke spürte sie seine Hand auf ihrer Schulter.
    »Fast. Ich bin ziemlich erschrocken.«
    Sie gingen weiter; Marshall mäßigte rücksichtsvoll sein Tempo. Das Beben hielt an.
    Unten an der Treppe befand sich eine Drehtür, durch dicke Gummilappen luftdicht gemacht. Hier drinnen, in den Büros, war es warm und still. Draußen jedoch, hinter den Drehtüren, in den Korridoren, die zur Transportabteilung führten, pfiff der Wind durch die Sandsäcke herein, und durch die Scheiben der Drehtür sahen sie, daß der Boden dick mit Staub und Schmutz bedeckt war, der immer wieder von Windstößen, die durch undichte Stellen hereinbliesen aufgewirbelt wurde.
    Marshall schlug den Kragen hoch und schritt rasch vor ihr her den Flur entlang zum Ordonnanzzimmer, wo sie den Fahrer abholten. Fünf, sechs erschöpfte Männer in schmutzigen Khakiuniformen saßen herum und tranken Tee. Ihre Gesichter waren eingefallen und fahl. Seit drei Wochen hatte niemand mehr die Sonne gesehen.

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