Der Sturm
dass sie sich weder voneinanderwegnoch aufeinanderzubewegten. Aber dann sah er, dass die Form, die die flackernden Lichter bildeten, tatsächlich unverändert blieb.
Und als er am Beckenrand entlanglief, wusste er auch, welches Muster die Kerzen dort in der Mitte des Schwimmbads bildeten.
Es war ein riesiges Herz.
Und je näher er kam, desto deutlicher erkannte er noch etwas anderes in dem Lichtkreis. Einen Kranz aus Fichtenzweigen, der mit roten Blumen gesteckt war – Mohnblüten, wie man sie an diesem 11. November auf die Gräber legte.
Alles an ihm fühlte sich taub an. Was er erwartet hatte, hatte er nicht gefunden. Julia war nicht hier und auch sonst niemand. Nein, was sich ihm hier bot, war die sichtbar gewordene Vorahnung, die ihn die ganze Zeit schon erfüllt, und diese nicht definierbare Bedrohung, die über dem ganzen Tag geschwebt hatte.
Es gab nur eine Möglichkeit, dem ein Ende zu bereiten. Chris wandte sich nach rechts, wo sich ein Lichtschalter nach dem anderen aneinanderreihte. Seine Hand fuhr darüber und das grelle kalte Licht, das die Neonröhren an der Decke und den Wänden ausstrahlten, nahm der Szene jeglichen Schrecken. Und sein Verstand setzte wieder ein.
Die Gleichgültigkeit, die in dem Mord an Ted Baker zum Vorschein getreten war, lag nicht daran, dass sein Mörder kalt und gefühllos vorging. Nein. Sein Ziel war ein anderes.
Klick.
Er hörte das Ticken der Uhr noch immer.
Trotzdem rührte sich Chris nicht. Das Meer von Kerzen und Mohnblüten hatte ihn etwas übersehen lassen, aber vielleicht hatte er es auch einfach nicht wahrhaben wollen. An dem Totenkranz hing eine schwarze Schleife, auf der große silberne Lettern prangten.
Er rannte um das Schwimmbecken herum. An der anderen Seite bückte er sich, um die Schrift lesen zu können.
Zuerst las er nur: In Memoriam.
Dann den Namen: Laura de Vincenz
De Vincenz?
War das nicht einer der Namen auf dem Grabstein? Der Name, der Julia nicht losließ, weshalb sie immer und immer wieder dort hinging?
Die Schrift auf dem zweiten Band konnte er zunächst nicht entziffern. Seine Hand fuhr durch das Wasser und bewegte sich hin und her. Leichte Wellen brachten die Kerzen und Blumen in Bewegung. Sie schaukelten hin und her und der Kranz drehte sich leicht.
Und nun konnte Chris erkennen, was auf dem schwarzen Band stand:
* 24. Dezember 1991
+ 11. November 2010
Remembrance Day.
Der Tag der Toten.
Chris starrte durch die Glasscheiben hinaus ins Freie, wo die Dämmerung dabei war, in die Novembernacht überzugehen. Nur noch ab und zu konnte er das Ächzen des Windes hören, an das er sich bereits gewöhnt hatte. Der Sturm war dabei abzuziehen, fast als hätte er seinen Auftrag erfüllt.
Aber er selbst war keinen Schritt weitergekommen.
Chris erlebte einen dieser Momente im Leben, in dem man nicht vor-und nicht zurückkonnte. Der Augenblick der Hilflosigkeit. Zuletzt hatte er ihn gespürt, als er seinen Vater hatte sterben sehen. Man hatte ihn angerufen und er war losgefahren und hatte gehofft, ja, er hatte es mit jeder Faser seines Herzens gehofft, er wäre bereits tot, wenn er ankam. Hatte gehofft, es sei entschieden und er müsse nicht kämpfen um sein Leben, für das, wie die Ärzte ihm versichert hatten, keine Hoffnung mehr bestand. Doch so war es nicht gewesen. Er hatte ihn sterben sehen, hatte sein Stöhnen gehört, die letzten schweren Atemzüge miterlebt, den Geruch des Todes wahrgenommen, der über dem Raum hing, und hatte nichts tun können – außer warten.
Er wollte nicht, dass das jetzt wieder passierte. Es konnte noch nicht zu spät sein. Nicht für Julia.
Mit diesem Gedanken fiel die Starre von ihm ab.
Chris sah sich nicht um, sondern rannte zur Tür zurück und seine Hand lag bereits auf dem Griff, als er ein dumpfes Klopfen vernahm.
Er wandte sich um und blickte zu den dunklen Glasscheiben zurück, hinter denen die Dämmerung sich ausbreitete.
Und ein kalter Schauer lief über seinen Rücken, als er draußen eine dunkle Gestalt wahrnahm. Das Zwielicht ließ ihn nur Schatten und Konturen erkennen.
Chris schien, als ob sein Verstand aussetzte, als sei das Gesicht, das sich von außen an die Scheibe presste, nur eine Täuschung seines Gehirns. Ein Trugbild. Halluzination.
Wieder klopfte es. Laut und deutlich.
Eine Hand, die sich hob.
Sein Herz klopfte bis zum Hals.
Unmöglich.
Er hatte Mühe, es zu begreifen, doch der dick vermummte Mann, der da draußen stand und ihm zuwinkte – das war ohne Zweifel
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