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Der Sturm

Der Sturm

Titel: Der Sturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Krystyna Kuhn
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dass sich etwas verändert hatte. Kalte, feuchte Luft schlug ihm entgegen.
    Sein Herzschlag wurde schneller und er hielt den Atem an, während seine Finger sich auf der Suche nach dem Lichtschalter rechts an der Wand entlangtasteten. Er zuckte zusammen, als er etwas Nasses auf seiner Hand spürte. Hastig drückte er den Schalter nach unten. Das Licht ging an und er wich erschrocken zurück.
    Flur und Wohnraum boten ein Bild der Verwüstung. Das Fenster im Arbeitszimmer hatte dem Sturm nicht standgehalten. Die Tür zum Flur stand offen und der Wind wirbelte ihm weiße DIN-A4-Blätter entgegen. Eine dünne Schneeschicht bedeckte den Boden.
    Ben sah sich um. »Ich übernehm das Obergeschoss«, rief er.
    Rose nickte. »Und ich den hinteren Teil.«
    Chris achtete kaum auf sie, sondern ging geradeaus, direkt in das Arbeitszimmer.
    Das Feuer im Kamin war heruntergebrannt. Bücher waren aus den Regalen gefallen und das Glas, das auf dem Schreibtisch gestanden hatte, war zerbrochen. Noch immer waren die Windstöße so stark, dass Chris glaubte, spüren zu können, wie der Holzboden unter seinen Füßen vibrierte.
    Nichts, aber auch rein gar nichts deutete darauf hin, dass jemand hier war. Obwohl in regelmäßigen Abständen Stöße und Schläge gegen die Wände zu hören waren, wirkte das Haus verlassen.
    Chris starrte auf das Chaos, das sich seinen Augen bot.
    Er wusste nicht, wie lange er dort gestanden hatte, als Rose sich von hinten an ihm vorbeischob. »Nichts«, sagte sie und sah sich um. »Die Küche und das Wohnzimmer sind leer.«
    »Schlafzimmer und Bad oben auch.« Das kam von Benjamin. Rose sprach nur aus, was Chris dachte: »Julia ist nicht hier, Chris.«
    Was, wenn er zu spät kam?
    Zu spät wozu?
    Um Julia zu retten.
    Wenn er nur wüsste, wovor. Vielleicht könnte er dann die richtige Entscheidung treffen, vielleicht wäre dann überhaupt dieser ganze Tag anders verlaufen.
    Aus den Augenwinkeln beobachtete er Benjamin, wie er zum Bücherregal ging und nach dem Kasten mit den Super-8-Filmen griff.
    Erkenntnis, hörte er seinen Vater sagen. Treffe deine Entscheidungen nicht nach dem Gefühl, nicht nach deinem Verstand, sondern aufgrund von Erkenntnissen.
    Chris fühlte das Bedürfnis zu schreien.
    Und was ist, Superdad, wenn Erkenntnisse fehlen?
    Wenn man keinen blassen Schimmer hat, was vor sich geht?
    Wenn man ausgeliefert ist?
    Was dann, Dad, was dann?
    Dann passiert vielleicht etwas, das dir den richtigen Weg zeigt, hätte sein Vater gesagt.
    Chris schüttelte langsam den Kopf.
    Nein, Dad, das ist nicht wirklich eine Option, die Hoffnung aufkommen lässt.
    »Hey, kommt mal her«, riss Rose’ Stimme ihn aus seinen Gedanken. Sie hielt einen silbernen Bilderrahmen hoch, den der Sturm zu Boden geweht hatte. Das Glas war zersprungen.
    Chris wandte sich ab und wollte schon gehen, als Benjamin rief: »Warte, Chris! Das solltest du sehen.«
    Er warf nur kurz einen Blick zurück, und als er aus der Entfernung nichts erkennen konnte, ging er weiter Richtung Flur.
    »Ich kann nicht, ich muss Julia suchen!« Er hörte selbst, dass seine Stimme sich merkwürdig anhörte, als befände er sich in Trance.
    »Nein, hör zu! Wusstest du, dass Brandon Student am Solomon College war? Hat er das jemals erwähnt?«, rief Benjamin.
    Im nächsten Moment war Chris an Benjamins Seite und riss ihm das Foto aus der Hand.
    »Das ist er doch, oder?«, fragte Benjamin und deutete auf einen hochgewachsenen, schlanken Jungen mit dunklen Haaren, der zusammen mit vier anderen Jungen auf einer Steinmauer saß. Dahinter erhob sich das Collegegebäude. Chris erkannte es sofort an dem steinernen, mit Efeu bewachsenen Eingangsportal und dem runden Vorplatz mit den Ahornbäumen.
    Die Aufnahme musste aus der Zeit stammen, in der auch der Film entstanden war. Und sie erinnerte an einen dieser Werbeprospekte, wie Colleges sie an Studienbewerber schickten. Ein eindrucksvolles Gebäude in einer fast märchenhaft anmutenden Landschaft, im Hintergrund die Dreitausender als Kulisse. Und davor die fröhlichen, hoffnungsvollen Gesichter begeisterter junger Menschen, glücklich, auserwählt worden zu sein, in diesem Tempel des Wissens den Grundstock der Weisheit erfahren zu dürfen. Ähnliche Fotos hatten im Arbeitszimmer seines Vaters an den Wänden gehangen. Aber das schien ihm unendlich lange her.
    Er konnte es nicht begreifen. Trotz des Lärms, den der Wind noch immer machte, konnte Chris hören, wie sein Herz raste. Und die einzige Möglichkeit, sich Luft

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