Der Sturz aus dem Fenster
– es ist ein Mann. Er reiste am Tag des Mordes zu seinen Eltern. Daß wir nach Zeugen suchen, erfuhr er erst bei seiner Rückkehr. Er verließ gerade mit seinen Koffern den Fahrstuhl, als die beiden ihn betraten.«
»Weiter«, sagte Kate, »ehe ich vor Neugier sterbe.«
»Es war ein Mann. Er, unser Zeuge, hat ihn nicht sehr deutlich gesehen, weil er damit beschäftigt war, seine Koffer aus dem Fahrstuhl zu bugsieren. Er sah nur kurz hoch und murmelte Arabella ein
›Hallo‹ zu. Sie kannten sich vom Sehen und grüßten sich, deshalb hat er nicht den leisesten Zweifel, daß sie es war. Der Mann neben ihr war größer als sie, was nicht schwer ist, schließlich war sie gerade einssechzig. Aber unser Zeuge hatte den Eindruck, daß er ein ganzes Stück größer war. Er trug einen Hut und hatte den Mantel-kragen hochgeschlagen. Das fiel dem Zeugen auf, weil es nicht gerade kalt war an dem Tag. Mehr nicht, außer, daß der Mann schwarz war.«
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»Schwarz?« Hätte der Kommissar gesagt, der Mann sei grün gewesen, Kate hätte nicht überraschter klingen können.
»Der Zeuge hat ihn nur kurz gesehen, aber er ist sich sicher. Er meinte, wenn man einen Schwarzen mit einer weißen Frau sieht oder umgekehrt, registriert man es unbewußt. Sein Unbewußtes habe aber nichts dergleichen gespeichert, und deshalb ist er sich sicher, daß dieser Typ schwarz war.«
»Sie glauben, Ihre Theorie, daß der Mord an Arabella nichts mit Adams zu tun hat, wird dadurch gestützt?« fragte Kate im neutrals-ten Ton, den sie aufbringen konnte.
»Das habe ich nicht gesagt. Ich spreche bloß von den Fakten, gnädige Frau.«
»Für die ich sehr dankbar bin«, fügte Kate schnell hinzu.
»Wir haben einen ernstzunehmenden Zeugen, der bereit ist, seine Aussage unter Eid zu wiederholen. Ob uns das weiterhilft, weiß ich noch nicht. Mein Partner und ich werden andere Leute in dem Wohnblock befragen, vielleicht hat noch jemand den Burschen gesehen und sogar erkannt. Ich melde mich wieder.«
Kate hatte nicht gefragt, ob die Kommissare glaubten, Humphrey Edgerton könne der Mann sein. Zu fragen, ob Humphrey Edgerton ein Alibi für die fragliche Zeit hatte, wagte sie erst recht nicht. Na-türlich glaubte sie keinen Moment, daß Humphrey Arabella umgebracht haben könnte, aber vielleicht hatte er sie aus irgendeinem Grund in der Wohnung ihrer Familie besucht und war gesehen worden. Arabellas Todeszeit war nur vage zu bestimmen; ein Zeitraum von mehreren Stunden kam in Frage. Wieder einmal, wie bei Adams, waren also nur vage Alibis zu erwarten.
Mit enormer Anstrengung zwang Kate ihre Gedanken zurück zum Herzog von Nemours und der Prinzessin, die sich so überra-schend geweigert hatte, ihn zu heiraten. Da die Literatur Kates Leben war, ärgerte es sie über alle Maßen, daß sie nicht in der Lage war, dieser vierhundert Jahre zurückliegenden Liebesaffäre ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken. Kate zweifelte nicht daran, daß die Prinzessin die richtige Entscheidung getroffen hatte, aber ihre Sorge um Humphrey, und damit die Gegenwart, kam ihr ständig in die Quere.
Nachdem Kate ihr Seminar über die Prinzessin von Cleve beendet hatte, das bemerkenswert gut gelaufen war und die Studenten zu lebhaften Diskussionen angeregt hatte (Kate war schon oft aufgefallen, daß Seminare, die unter alles andere als idealen Bedingungen 120
vorbereitet wurden, einen oft dadurch überraschten, daß sie besonders befriedigend verliefen), kehrte sie in ihr Büro zurück, um mit Clémence Anthony zu sprechen, der Frau von Andrew Adams, dem Sohn, den Kate nicht kennengelernt hatte. Dr. Anthony, eine Psychoanalytikerin, hatte ihren Mädchennamen beibehalten, was Kates volle Zustimmung fand; gleichzeitig bereicherte sie Kates inzwischen sehr ansehnliche Besetzung um eine weitere Figur. Ich muß endlich aufhören, diese Sache als Drama, Fernseh- oder Kinofilm zu sehen. Dies ist kein Drama, eine Fiktion vielleicht, aber kein Drama.
Kates Entschluß wurde durch die Erscheinung und Konversation von Dr. Clémence Anthony auf eine harte Probe gestellt. Kate wußte nicht recht, was sie erwartet hatte, aber ganz bestimmt keine doktri-näre Freudianerin, die zwischen irgendwelchen Komiteesitzungen oder Konferenzen ein paar Minuten abgeknapst hatte und Kate eindeutig für nicht wichtig genug hielt, um ihr einen dieser wenigen freien Momente zu schenken. Kate empfand sehr selten auf Anhieb tiefe Abneigung gegen eine Frau – eine Abneigung, die nicht, wie
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