Der Sturz aus dem Fenster
»Sagen Sie mir, wer käme Ihrer Meinung nach als Mörder von Professor Adams in Betracht? Ich frage nach keiner konkreten Person, sondern welche Art von Person es gewesen sein könnte.«
»Wollen Sie meine professionelle oder meine persönliche Meinung hören?«
»Ich bin natürlich an beiden interessiert.«
»Meine persönliche Meinung ist, daß keiner aus der Familie der Täter war. Man könnte tausend plausible Gründe dafür finden, warum wir ihn aus einem Fenster hätten werfen wollen. Schließlich war diese Frau wild entschlossen, sich sein Vermögen bis zum letzten Pfennig unter den Nagel zu reißen, bevor sie ihn in Ruhe lassen würde; und wir können Geld so gut gebrauchen wie jeder andere auch. Außerdem waren wir in der Nähe, wodurch wir noch verdächtiger werden, denn hätten wir es gehandhabt, wie all die anderen Jahre, wären wir so weit entfernt gewesen, daß keiner von uns als Verdächtiger in Frage käme. Es war aber niemand von uns, weil ich weiß, wo wir alle an jenem Samstag waren, und es hätte ein gemeinsames Unternehmen sein müssen – einer allein hätte es nicht schaffen können. Und selbst wenn einer von uns die psychische Energie für so etwas aufgebracht hätte – eine Gemeinschaftstat dieser Art wäre bei uns unmöglich. Wir haben ihn nicht getötet. Aber ich gebe zu, daß ich mehr als einmal daran dachte, den alten Mistkerl umzubringen; am liebsten dadurch, daß er sich meine Analyse seiner Symptome anhören muß und einen Herzinfarkt bekommt. Aber, wie gesagt, Denken und Ausagieren sind zwei verschiedene Dinge.«
»Und Ihre professionelle Meinung?«
»Es muß jemand gewesen sein, der sich bis aufs Äußerste bedroht fühlte – in die Ecke getrieben, wie der Laie sagt, jemand, der 123
unter höchstem Druck stand. Das ist meine Analyse.«
»Trifft das auch auf den zweiten Mord zu?«
»An der jungen schwarzen Frau? Davon haben wir erst vor kurzem gehört. Zweifellos wäre es zu meinem Vorteil, wenn ich Ihnen erzählte, daß meiner Meinung nach beide Verbrechen von derselben Person begangen worden seien, da ein zweites Verbrechen bewußter Rationalisierung immer zugänglicher ist als das erste. Und wenn beide Verbrechen auf das Konto derselben Person gehen, dann hätte keiner von uns das zweite begehen können und daher auch nicht das erste. Aber meine wahre Meinung ist, daß es verschiedene Täter waren, wobei das erste Verbrechen den zweiten Verbrecher, der wahrscheinlich ein Psychotiker ist, inspiriert hat.«
»Können Sie mir ein klein wenig über Ihren Gatten und Ihre Schwägerin erzählen?« fragte Kate. »Beide habe ich noch nicht kennengelernt.«
»Andy ist Lawrence, den Sie kennengelernt haben, sehr ähnlich.
Als Reaktion auf einen moralisch verantwortungslosen Vater und eine starke, warmherzige Mutter bildeten sich bei beiden ähnliche Persönlichkeitsstrukturen heraus. Glücklicherweise war der Vater, obwohl tadelnswert, weder abwesend noch schwach. Sie sind beide selbstsichere Männer, eine Eigenschaft, deren Ursprung, wie Freud sagte, immer rätselhaft und schwierig zu klären ist. Was Kathy betrifft, sie ist Mikrobiologin und einfach eine nette, intelligente Person. Sie hat so wenig unkontrollierte Aggression, wie man sich bei einem Menschen nur vorstellen kann.«
»Ich danke Ihnen. Ich glaube, das war alles. Ich weiß es zu würdigen, daß Sie mir Ihre Einschätzung der Situation geschildert haben« (fast hätte Kate gesagt »Ihre Einschätzung mit mir teilten«, darin hätte allerdings eine Ironie mitgeschwungen, die sie vermeiden wollte. Diese verdammte Frau mochte eine erzkonservative Freudianerin sein, hatte aber wahrscheinlich trotzdem recht.)
»Glauben Sie an den Penisneid?« hörte sich Kate fragen.
»Natürlich«, sagte Dr. Anthony, so als sei sie gefragt worden, ob sie an Jesus als reale Gestalt glaube. »Penisneid und Kastrationsangst sind wesentliche Elemente des Ödipuskomplexes. Wenn ich recht verstehe, sind Sie der Meinung, Freuds Theorien müßten überarbeitet werden?« Dr. Anthony griff nach ihrer Handtasche, wartete aber auf eine Antwort.
»Ich glaube«, sagte Kate und erhob sich, um Dr. Anthony zur Tür zu begleiten, »daß die Menschen der Antike, wenn die Götter ihnen 124
Böses über ihre Kinder prophezeiten, dafür hätten sorgen sollen, daß diese Kinder dann auch wirklich ermordet wurden. Ohne Paris, vor dem Priam gewarnt wurde, hätte es vielleicht nie einen Vorwand für den Trojanischen Krieg gegeben. Und ohne Ödipus hätte
Weitere Kostenlose Bücher